Strehlers Museum für verdiente Regisseure

Das erste Festival der „Union der Theater in Europa“ in Düsseldorf bietet eine erstaunliche Häufung abgespielter Erfolgsinszenierungen  ■ Von Gerhard Preußer

Die älteste Inszenierung des Festivals war 28 Jahre alt, für die emphemere Kunst des Theaters ein unglaubliches Alter, das nur durch den Fortschritt der theatralischen Geriatrie zu erklären ist: Giorgio Strehler hat seine schon 1964 europaweit umjubelte Inszenierung von Goldonis „Krach in Chiozza“ am Mailänder Piccolo Teatro für die Expo 92 in Sevilla rekonstruiert und dann zum europäischen Theaterveteranentreffen nach Düsseldorf mitgebracht. Lew Dodins Bühnenfassung des Romans „Brüder und Schwestern“ von Fjodor Abramow hat immerhin ehrliche acht Jahre auf dem Buckel und ist vom St.Petersburger Maly-Theater auch schon mehrfach auf Tournee durch Europa geschickt worden.

Liviu Ciuleis Inszenierung von Shakespeares „Sommernachtstraum“ ist in ihrer Bukarester Fassung zwar erst zwei Jahre alt, aber bis auf die Schauspieler identisch mit seiner Inszenierung in Minneapolis 1986. Nur zwei der neun in Düsseldorf gezeigten Inszenierungen stammten aus der letzten Spielzeit: Heiner Müllers Kombination eigener Stücke unter dem Titel „Mauser“ vom Deutschen Theater Berlin und Declan Donnellans englische Erstaufführung von Tony Kushners „Angels in America“ vom Londoner National Theatre.

Diese erstaunliche Häufung abgespielter Erfolgsinszenierungen ist das unbeabsichtigte Resultat der Konzeption des Düsseldorfer Festivals. Es ist ein Festival der Institutionen, kein Festival der Stücke, der Inszenierungen oder der Schauspieler. Die „Union der Theater in Europa“ ist ein Zusammenschluß von Theatern, und diese Theater konnten entscheiden, welche Inszenierungen sie in Düsseldorf zeigen. So wurde aus dem Düsseldorfer Festival ein Fest mit bewährten alten Inszenierungen, ganz das Gegenteil der Bonner Biennale vom Juli dieses Jahres, die ein Markt für riskante neue Stücke war. Das Bonner Beiprogramm bestand aus Diskussionen und Lesungen, in Düsseldorf gab's statt dessen Empfänge und Diners.

Initiator dieses feinen europäischen Theaterclubs ist Giorgio Strehler, seit langem schon der oberste Aktivist der Europäisierung des Theaters. Nachdem er die Leitung des Theatre de l'Europe in Paris abgegeben hatte, wollte er mit dieser „Union“ ein neues Forum für seine Idee schaffen. Mitglieder dieses Vereins sind Strehler und seine Freunde oder, anders gesagt, die führenden Staatstheater der meisten europäischen Länder. Nach Strehler verbindet die Theater der „Union“ keine ästhetische, aber eine moralische Gemeinsamkeit: Das Theater sei kein Geschäft, sondern „un instituto morale“ .

Daß dennoch ästhetische Gemeinsamkeiten die Mehrzahl der Inszenierungen verbinden, spricht eher gegen die Auswahl. Was sie eint, ist Realismus. Weite und Vielfalt der realistischen Spielweise konnte man in Düsseldorf zwar studieren: von der naiv folkloristischen Inszenierung von Beaumarchais „Les Noces des Figaro“ des katalanischen Regisseurs Fabià Puigserver aus Barcelona bis zur meisterhaft doppelbödigen „Platonow“-Version des Budapester Katona József Theaters. Aber Heiner Müllers Eigeninszenierung mit ihrer Fülle von unverbindlich assoziierten Bildern, ihrer vollständigen Verweigerung jeglicher Figurenpsychologie war das einzige (wenig geglückte) Gegenbeispiel eines Theaters der Bilder.

Thematische Gemeinsamkeiten gab es überraschenderweise aus: drei Dorfgeschichten von Liebe und Eifersucht, aus Italien, Skandinavien und Rußland. Strehlers Goldoni-Inszenierung ist tatsächlich konservierbar, weil ihre eine Verschmelzung von traditionsgeleiteter Natürlichkeit und manieriertem Stilwillen gelingt, die zeitlos ist.

Schon bei der Premiere der Urfassung hatte die Schweizer Kritikerin Elisabeth Brock-Sulzer geweissagt: „Diese Aufführung wird sich längste Zeit hindurch völlig intakt und gespannt bewahren.“ Strehler unterwirft Goldonis Volksstück einem ästhetischen Kalkül, indem nur noch kühl getönte Farben und abgezirkelte Gruppenchoreographien gelten, ohne daß es etwas von seiner naiven Direktheit verliert. Fast ausschließlich im Gegenlicht steht die dörfliche Idylle vor uns, ein Halbschattenspiel, in dem keine Figur flach wirkt, aber alle raffiniert halbrund erscheinen. Jede kleine Bühnenkonstellation hat einen perfekt inszenierten Lichteinfall wie ein Tafelbild, und doch ist die Inszenierung fern von aller Statik, durchpulst von einem variablen, aber stetigen Bewegungsrhythmus.

Demgegenüber war die andere Dorfgeschichte, erzählt von einem der berühmten Regisseure der sechziger Jahre, eine herbe Enttäuschung. Ingmar Bergmanns „Peer Gynt“-Inszenierung, die in der vorletzten Spielzeit am Stockholmer Königlichen Schauspielhaus herauskam, bestätigt das Urteil über seine Münchner Inszenierungen der späten siebziger Jahre: „kultivierte Einfallslosigkeit“. Die erstickende Enge des norwegischen Dorfes kann Bergmann noch in einem brutal stampfenden Hochzeitstanz der in aggressive rote Trachten gekleideten Dorfbewohner spürbar machen. Aber nirgendwo gelingt es, den halluzinatorischen Charakter von Peers Traumreisen, die phantastische Leichtigkeit von Ibsens Faust-Parodie umzusetzen – immer nur plump ausgemalte Details: Trolle mit hübschen Schwänzen, ein Vogel Strauß aus Plüsch.

Auch Lew Dodins „Brüder und Schwestern“, das die Geschichten der Kolchosbauern eines nordrussischen Dorfes im Stalinismus nach dem Zweiten Weltkrieg erzählt, könnte man ästhetisch konservativ nennen. Doch bei Dodin ist, allerdings weniger offensichtlich als bei Strehler, die Wirklichkeitsabbildung das Ergebnis kalkulierter Reduktion auf Zeichen. Eine Holzbalkenwand, einige Stangen mit Starenkästen und zwei drehbare Holzschranken sind das ganze Bühnenbild. Alles andere leisten die Schauspieler mit ein paar Requisiten. So gelingt Dodin mit dem Gruppenbild der säenden, singenden Bäuerinnen ein Symbol für den aus Entbehrungen geborenen Optimismus der Nachkriegszeit, dem die peinliche Rechthaberei des sozialistischen Realismus fehlt. Die folgende Verdüsterung und Verhärtung der Kämpfe im Dorf entwickelt in der siebenstündigen Gesamtaufführung beider Teile eine emotionale Sogwirkung wie sonst keine der Aufführungen des Festivals. Dodin hofft nicht wie Brecht darauf, daß Erkenntnisse auch Emotionen bewirken, sondern will umgekehrt durch emotionale Wirkungen Erkenntnisse fördern. Und tatsächlich wirkt das desillusionierende Ende des Abends, wenn alle menschlichen Beziehungen durch das bürokratisch unbewegliche und latent brutale Gesellschaftssystem korrumpiert sind, als moralischer Appell.

Die einzige wirklich aktuelle Inszenierung des Festivals kam aus England. Volker Canaris, der Intendant des Düsseldorfer Schauspielhauses und damit der Organisationschef des Festivals, hält sich zu Gute, in diesem Fall auf die Stückauswahl des Londoner Theaters eingewirkt zu haben. „Angels in America, Part One“ wurde 1991 in San Francisco uraufgeführt, und seit Januar dieses Jahres läuft die Inszenierung des Royal National Theatres mit großem Erfolg. In Deutschland wurde es mehrfach schon als erfolgreicher Ersatz für das unmöglich gewordene Zeitstück gepriesen und das National Theatre scheut sich nicht, es als das wegweisende Stück für die neunziger Jahre anzukündigen. Nach solcher Vorbereitung war der Publikumserfolg zu erwarten: Zusatzvorstellungen wurden angesetzt, aber die lokale und regionale Presse urteilte: enttäuschender Kitsch.

Das Stück gehört wohl zu den Gewächsen der englischen und amerikanischen Theatertreibhäuser, die nur schwer auf deutschen Boden zu verpflanzen sind. Eine unbekümmerte, aber wirkungsbewußte Dramaturgie und die Neigung, politische Direktheit mit Humor und Sentiment zu verbinden, das hat es schwer beim grübelnden deutschen Tiefsinn. Kushner wirbelt scheinbar Unvereinbares durcheinander: Aids, die Mormonen, Korruption. Er verwechselt die Realitätsebenen: Träume und Halluzinationen greifen in die Wirklichkeit ein. Zunächst gibt es zwei Paare: Prior und Louis, deren Liebe daran zerbricht, daß Louis vor der Aids-Krankheit seines Freundes kapituliert und ihn verläßt, und Joe und Harper, ein karrierebewußter Mormone und seine frustrierte Ehefrau. Am Ende gibt es ein neues Paar: Joe und Louis. „Angels in America“ ist auch ein Stück über verdrängte Homosexualität und Homophobie. Kushner hat ihm den Untertitel „A Gay Fantasia on National Themes“ gegeben. Das Stück ist aus der Perspektive der Schwulenbewegung geschrieben, aber es beschränkt sich nicht auf Beziehungsfragen oder die besonderen Probleme der „Nation der Schwulen“, sondern hat den Zustand der ganzen amerikanischen Nation zum Thema.

Die politische Debatte wird schon dadurch in das Zentrum des Stückes gerückt, daß eine der Hauptfiguren Roy Cohn heißt. Diese Figur ist einem historischen Vorbild nachgebaut: Roy Cohn war wie Richard Nixon ein enger Mitarbeiter Joe McCarthys, des obersten Kommunistenjägers in den fünfziger Jahren. Seitdem war er einer der einflußreichsten Drahtzieher des konservativen politischen Establishments, eine graue Eminenz während der Präsidentschaft Nixons und Reagans. Als er 1986 starb, stellte sich heraus, daß er Aids hatte und schwul gewesen war. Roy Cohn bietet Joe einen Job im Jusitzministerium an, in dem er Einfluß auf politische Gegner Cohns ausüben soll, die ein Verfahren wegen Bestechlichkeit gegen ihn anstrengen wollen. So hat Kushner seine drei Handlungsstränge, Aids, die Mormonen und politische Korruption, zu einem scheinbar wirren Knäuel verschlungen.

„Angels in America“ hat zwei Teile, nur der erste „Millenium Approaches“ („Die Jahrtausendwende ist nahe“) ist bisher aufgeführt. Die zweite Teil, „Perestroika“, wird erst im nächsten Jahr aufgeführt werden, und dann erst wird man das wahre Gewicht dieses amerikanischen Nationaldramas abwägen können, aber er kündigt sich unüberhörbar im ersten Teil schon an: Immer wieder hört Prior Stimmen, die in biblischem Tonfall eine frohe Botschaft ankündigen, und schließlich, im monumentalen Schlußbild des Stückes, bricht mit donnerndem Getöse ein grauweißer Posaunenengel durch die Decke und verkündet, nun fange die große Arbeit erst an. Mit diesem vielversprechenden Ende entläßt der erste Teil die ratlos beeindruckten Zuschauer. Was die Engelserscheinung bewirkt und bedeutet, wird uns erst der zweite Teil offenbaren.

There are no Angels in America ist eine gängige Redewendung für die Traditionslosigkeit und den antimetaphysischen Pragmatismus der Neuen Welt. Bei Kushner heißt es: „Es gibt keine Engel in Amerika, keine geistige Vergangenheit, keine rassische Vergangenheit, nur die Politik, die Verschiebung der politischen Macht nach unten und außen, die Übertragung der politischen Macht auf das Volk.“ „Angels in America“ ist ein Stück über Aids, aber andererseits ist Aids nur ein Beispiel für den Zustand der USA. Wie Harper in ihren Valiumhalluzinationen das Ozonloch als ein Zusammenbruch des Immunsystems der Erde beschreibt, so sieht das Stück überall die Auflösung gesellschaftlicher Schutzsysteme. „Was Aids uns zeigt, ist die Grenze der Toleranz, daß es nicht reicht, geduldet zu werden“, sagt Louis. Er löst sich aus seiner Bindung an Prior, weil er dessen Tod nicht miterleben kann, weil er seinen eigenen Tod nicht riskieren will, und kommt doch von der Liebe zu Prior nicht los. Joe löst sich von seiner Frau und seinem Mormonenglauben und kommt doch nicht von ihnen los.

Kushner zeigt eine fragmentierte Gesellschaft, die in Subsyteme und rassische, nationale, sexuelle und religiöse Gemeinschaften zerfällt. Dort gibt es zuwenig Bindungen und zu viele. Diese Gesellschaft ist das Resultat des Neoliberalismus der Reagan-Ära und zugleich der Gesellschaftszustand, gegen den die Neokonservativen mit ihrem rückwärtsgerichteten Reformprogramm angetreten waren. Louis sagt, nachdem er Prior verlassen hat und Joe begegnet: „Vielleicht sind wir frei. Zu tun, was wir wollen. Kinder eines neuen Morgens, kriminelle Gehirne. Selbstsüchtig und gierig und lieblos und blind. Reagans Kinder. Du hast Angst, ich auch. Jeder hat Angst im Land der Freiheit.“ Kushners Stück ist trotz seiner sentimentalen Personalisierung und plumpen Rhetorik auf der Höhe der intellektuellen Debatte über Liberalismus und Kommunitarismus in den USA.

Leider ist zu befürchten, daß das Stück in Deutschland außerhalb der schwulen Szene keinen vergleichbaren Erfolg haben wird, nicht nur weil es zu sehr auf die USA zugeschnitten ist, sondern weil es hier keine Inszenierung geben wird, die es mit soviel Witz, Schwung und ungebremster Emotionalität auf die Bühne bringt, wie die Declan Donnellans. Donnellan war erfolgreich mit seiner Tourneetheatertruppe „Cheek by Jowl“, bevor er ans National Theatre geholt wurde und hat einen viel unbekümmerteren, frischeren Inszenierungsstil als die alten Herren der Staatstheater, die das Düsseldorfer Festival sonst beherrschten. Die Umbauten zwischen den kurzen Szenen erfolgen in rasendem Tempo und sind voll ins Spiel integriert. Für feine Charakterstudien bleibt keine Zeit, aber dennoch erspielen die exzellenten Darsteller sich ein Mitgefühl, das durch intellektuelles Vergnügen ausbalanciert wird und damit weit über die übliche Betroffenheitsdramatik der Aids-Stücke hinausgeht.