Eine Geburtsurkunde für das neue Deutschland

Plädoyer für ein neues Staatsangehörigkeits-Recht/ Ein Einwanderungsgesetz birgt neue Risiken/ Nicht nur deutsche Herkunft, sondern die Geburt in Deutschland muß Grundsatz der Staatsangehörigkeit werden  ■ Von Dan Diner

In der aufschäumenden Debatte um das verfassungsmäßig verbriefte Recht auf Asyl geht es nicht um dieses allein. Angesichts allgemeinen Verlusts an politischer Orientierung nach dem Verfall einer alten Welt, wie ihrer Deutungsmuster, findet es sich auch als Ticket in Anspruch genommen – als ordnende Unterscheidung politischer Zugehörigkeit, um nicht das strapazierte Wort von der „Identität“ gelten zu lassen.

Es geht wieder einmal mehr um eigene Befindlichkeiten, um den beklagenswerten Verlust innerer Klarheiten und Sicherheiten denn um die Sache selbst. Und dies angesichts von Problemen, die in der Tat an die letzten aller Dinge gemahnen. Wer fände angesichts der stetigen, wie eine Seuche sich über das Land ausbreitenden Angriffe auf hilflose Menschen, die Asyl begehren, und mittels der Schändung und Zerstörung jüdischer Friedhöfe und Gedenkstätten nicht jene Vergangenheit evoziert, zu deren Entgegensetzung sich das Gemeinwesen bislang verklärte?

Doch Vorsicht – diese Bilder mögen trotz oder gar wegen ihrer Eindringlichkeit täuschen. So wie der als Nazis staffierte Plebs es ganz darauf anlegt, den Anschein einer Wiederholung zu erwecken, setzt sich seine geharnischte Abwehr Zwängen aus, die auf eine, wenn auch spiegelverkehrte, Bestätigung solcher Wahrnehmung hinauslaufen. Damit begibt man sich freilich der Blendung, die Gefahr dort zu übersehen, wo sie sich zukunftsträchtig zusammenbraut.

Die Asyldebatte mobilisiert ausschließlich nach rechts

Dies ist nicht beckmesserisch gemeint, aber so, wie die Asyldebatte bisher geführt worden ist, zog sie den wenig anheimelnden Effekt nach sich, nach rechts hin zu mobilisieren, und zwar ausschließlich nach rechts. Dies liegt nun einmal am Gegenstand. Das als Asyl drapierte Problem der Zuwanderung trifft vornehmlich nicht die Bürger des Gemeinwesens selbst, sondern solche Menschen, die sich mit der Absicht tragen, ihm in welcher Weise auch immer angehören zu wollen. Das Asylrecht ist insofern ein äußerst schwaches Grundrecht. Kein Deutscher im Sinne des Grundgesetzes wird sich jemals in die Lage versetzt sehen, in Deutschland Asyl zu begehren. Eine solche Schwäche des Asylinstituts mag man durchaus beklagen – an dieser Realität führt die Klage jedenfalls nicht vorbei. Daß diese Schwäche der Kompensation bedarf, versteht sich von selbst – doch darüber später.

Der unmittelbare politische Effekt der Asyldiskussion zieht zweierlei nach sich. Zum einen die ganz praktische Aushöhlung des Asylgedankens durch Ausführungsbestimmungen, die wesentlich dem Phänomen der Zuwanderung gelten. Zum anderen jene Mobilisierung nach rechts hin. Die Asyldebatte dient als Schmierstoff für die Ausbildung eines neuen Parteiensystems in Deutschland, das seinen Weg über die Zerstörung der rechten Mitte nehmen könnte.

Der Vergleich mag überzogen anmuten: Aber wie in Weimar die Demokratie die Hypothek des verlorenen Krieges und der Kriegsfolgen zu tragen hatte, so steht das noch als Bonner Republik ausgewiesene politische Gemeinwesen vor einem in seiner Bedeutung nicht unähnlichen Experiment: Wird das auf die Bedingungen des westlichen Teilstaates eingespielte politische System, werden die politischen Parteien sich als befähigt erweisen, das außergewöhnliche Wagnis der Vereinigung in einer völlig neuen Welt und angesichts neu-alter Konflikte zu bewältigen?

Nun ist die Asyldebatte nicht der einzige Schmierstoff, der die Parteienlandschaft in eine höchst unwillkommene Richtung gleiten läßt. Aber wirkungsvoll ist sie allemal. Insofern böte es sich geradewegs an, die Frage des Asylrechts und der Zuwanderung schon dieser Gründe wegen aus dem Fegefeuer moralischer Erhitzung zu nehmen – sie schlichtweg, wenn überhaupt noch möglich, zu neutralisieren.

Kein Zweifel: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Einwanderungsland. Ein Einwanderungsland freilich, soweit es sich um eine bloße Zustandsbeschreibung handelt. Mental oder gar verfassungsrechtlich ist Deutschland alles andere als ein Einwanderungsland. Bislang erfolgt die Immigration in Form eines Sickerprozesses, vor allem mittels Arbeitsmigration – und nicht zuletzt auch über den Artikel16 GG.

Dieser Funktionswandel des Artikels16 wird von jenen positiv zur Kenntnis genommen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Realität der Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland rechtlich anzuerkennen und das Land auch formell in ein Einwanderungsland zu verwandeln. Theoretisch ist dies ein durchaus löbliches Begehren. Doch von seiner praktischen Umsetzung her fänden sich all jene Probleme nur noch gesteigert, die dieser Vorschlag zu umgehen sucht. Einwanderung erfolgt nämlich nicht qua Verwaltungsakt wohlwollender Behörden, sondern bedarf einschlägiger Gesetze. Gesetze wiederum bedürfen der Beratung und der Beschlußfassung in den Parlamenten. Die Frage der Kontingentierung, also wer und wie viele in das Land der Verheißung immigrieren dürfen, wird so zu einem Gegenstand stetiger politischer Diskussion.

Nun zeigt schon die Asyl- und Zuwanderungsdebatte, wie und in welche Richtung dieses Thema zu mobilisieren vermag. Der politische Diskurs wird sich weiter ethnifizieren und gerade für die rechten und rechtspopulistischen Parteien gefundenes Fressen sein. Und dies nicht nur als einmaliges Ereignis, wie etwa im Falle einer Grundgesetzänderung, sondern als ständige und stetige Begleitmusik der politischen Auseinandersetzung. Denn dabei wird es nicht nur um die „Kulturverträglichkeit“ der Fremden gehen, sondern um die leidige Frage nach der eigenen „Identität“, was sich zu einem gefährlichen Dauerthema auszuweiten droht. Und dafür wird es voraussichtlich keine Mehrheiten geben – oder schlimmer: Damit werden Mehrheiten geschaffen, unter deren Herrschaft sich nicht gut wird leben lassen.

Mehr noch: Einwanderergesellschaften sind höchst selbstbezogene Gemeinwesen. Sie regeln die Einwanderung nach ihren jeweils eigenen Bedürfnissen – nehmen sich jedenfalls nicht, wie etwa im Falle des Asyls, der Perspektive des Schutzsuchenden an. Eine solche völlige Verkehrung der Interessenskonstellation mutet die Vorstellung, Deutschland in ein kontingentierendes Einwanderungsland zu verwandeln, höchst problematisch an. Außerdem findet sich die soziale Realität des hiesigen Gemeinwesens im Unterschied zu wirklichen Einwanderungsländern, wie etwa den USA, wenig bedacht. Die Bundesrepublik ist ein europäischer Wohlfahrtsstaat. Kollektive wie individuelle Sicherungen des Besitzstands werden als hoher, über Jahrzehnte, ja über Generationen hinweg gewachsener Wert erachtet. Die Ansprüche, von Verbänden artikuliert und ständig neu gewichtet, fußen auf dem Prinzip der Anciennität. Dauer von Anwesenheit und Anwartschaften sind wesentliches Motiv sowie soziales Ordnungsprinzip im Gemeinwesen. Dies fördert Bewahrungsegoismen in wie immer als berechtigt erachteten Anwartschaften. Dies alles ist nicht neu — verhält sich aber zu den Prinzipien einer Einwanderungsgesellschaft durchaus antagonistisch. In den USA, einem „freien Land“, sind soziale Anwartschaften dünn gesät – und es mangelt außerdem an jenem sozialen Netz, das diese Bezeichnung verdient. Nicht zuletzt ist es die soziale Ausstattung der Bundesrepublik, die jenen Sog ausübt, für den die gegenwärtige Zuwanderung steht. Wäre Deutschland weniger sozialstaatlich ausgestattet, öffnete sich jener gesellschaftliche Raum, dessen eine Einwanderungsgesellschaft bedarf wie die Luft zum Atmen. Preis hierfür hätten freilich Deregulierungen zu sein – und zwar für alle. Von ihrer Sozialstruktur her ist die Bundesrepublik also keine Einwanderungsgesellschaft. Und dennoch weist die Zuwanderung auf – wie sie der Zuwanderung bedarf. Sollte die Zu- und Einwanderung sich über erklärte Politik und Gesetze reguliert finden, würden Probleme aufgeworfen, die notwendigerweise massive Ungleichbehandlungen verrechtlichen. Um zwischen ansässiger und zugewanderter Bevölkerung ausgleichend zu wirken, müßte die Vergabe der deutschen Staatsangehörigkeit an den Zuwanderer absehbare Voraussetzung sein; die Einbindung in das soziale Netz ebenso.

Daran schließen sich erhebliche Gerechtigkeitsprobleme an. Allein schon die Kontingentierung bei der Einwanderung stellt den Gesetzgeber vor ethische Probleme, die ihn ähnlich überfordern dürften wie das gegenwärtige Problem des Asyls; vor allem angesichts der Tatsache, daß das aktuell ventilierte Projekt einer Einwanderungsgesellschaft nicht zuletzt den Zustrom reguliert, der seinen Weg bislang über Artikel16 nimmt. Wie wäre bei einer Quotierung etwa die Zurückweisung des – sagen wir – dreihunderttausendundersten Zuwanderers ethisch zu rechtfertigen? Ein sinnvolles Einfallstor der Einwanderung kann nicht im Bereich des Artikel16 und auch nicht bei einem Einwanderungsgesetz liegen, sondern läßt sich in einem zu erweiternden Geltungsumfeld des Artikel116 GG ansiedeln. Und dabei geht es auch um die Umformung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts als wirklichkeitsgerechte wie angemessene Verwandlung des Selbstverständnisses dieses Landes.

Bislang ruht das Staatsangehörigkeitsgesetz der Bundesrepublik auf dem Prinzip eines ausgesprochenen jus sanguinis. Dies will heißen: „Deutscher“ im Sinne des GG ist vornehmlich der- beziehungsweise diejenige, der/die deutscher Herkunft ist. Nun mochte die Geltung dieses Prinzips bei einer fast 200 Jahre währenden Umwandlung Deutschlands von Reich in Staat seine Berechtigung gehabt haben. Spätestens jetzt, mit der endgültig erklärten territorialen Saturierung und Anerkennung seiner Grenzen, hat sich dieses Prinzip gänzlich überholt. Deutschland will ein westliches Gemeinwesen sein. Was ihm dazu allerdings fehlt, ist die Neudefinition seines Staatsangehörigkeitsrechtes auf der Grundlage eines jus soli. Gerade nach der Vereinigung stände es dem Gemeinwesen also gut an, dies auch verfassungsmäßig anzustreben. Das dominierende jus sanguinis hingegen mutet an sich wie ein Relikt aus wenig anheimelnder Vergangenheit an.

Nun ist der Artikel116 schon seit längerem im Gerede, wenn auch weniger seiner kompensatorischen Bedeutung für die gegenwärtige Debatte um Zuwanderung als Einwanderung. Ansätze zu einer Veränderung fanden aus wiederum ganz anderen Gründen gewichtigen Einspruch. Ethnischen Deutschen – den Rußlanddeutschen etwa – sollte die Zuwanderung als „Spätaussiedler“ offen gehalten werden. Allein schon der bloße Versuch einer einschränkenden Novellierung dieses Artikels würde einen Ansturm ethnischer Deutscher in die Bundesrepublik nach sich ziehen – aus der Furcht heraus, die Chance des Zuzugs auf der Grundlage des Staatsbürgerrechtes nach jus sanguinis für immer zu vergeben. Darum kann es bei der erwogenen Ergänzung des Artikel116 GG zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedenfalls nicht gehen. Nicht der Abschaffung des jus sanguinis wird das Wort geredet, sondern einer Ergänzung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechtes durch ein jus soli. Nicht durch deutsche Herkunft allein und von der quantitativ bedeutungslosen und gemeinhin quälenden Einbürgerung abgesehen, sondern auch durch Geburt auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland fände sich der Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit begründet. Durch ein solches, westlich-aufgeklärten Staaten angemessenes Prinzip ließe sich auch Einwanderung mittels eines sozialadäquaten Sickerprozesses leichter erwirken. So würden bereits im Lande sich befindliche „Ausländer“ Familienangehörige den jeweiligen Umständen angemessen nachziehen. Immigration würde sich vornehmlich als erweiterte Arbeitsimmigration realisieren. Und ein solcher Sickerprozeß entspräche jener Zuwanderung, wie sie für Einwanderungsgesellschaften typisch ist, die sich als solche staatsrechtlich nicht erklären – Frankreich etwa.

Nun ließe sich einwenden, eine derartige Ergänzung des Grundgesetzes sei für das deutsche Selbstverständnis derart einschneidend – zumal eine faktische de-Ethnisierung der Staatsbürgerschaft die Folge wäre –, daß im Bundestag hierfür kaum Bereitschaft vorauszusetzen sei. In der Tat wäre eine derartige Veränderung für das Selbstverständnis Deutschlands fundamental. Aber sie wäre auf einen einmaligen Akt im Parlament angelegt. Und dies im Unterschied zu den eventuell ständigen und immer wieder aufs neue zu bestimmenden Festlegungen in der Einwanderungsquotierung.

Die Folgen einer derartig naturwüchsigen Einwanderung schlügen nicht unmittelbar durch, sondern fänden sich gleichsam sozial gestreckt. Und in der zeitlichen Anwartschaft auf Teilhaberechte liegt das Problem von Ein- und Zuwanderung letztendlich begründet. Außerdem: Ein Gemeinwesen ohne jus soli kann sich schon im Ansatz nicht zu einer Gesellschaft wandeln, die für Einwanderung offen sein will. Einwanderungsregulierung qua Gesetz zu fordern, ohne jus soli vorauszusetzen, bedeutet den zehnten Schritt vor dem ersten zu tun. Das politische Scheitern eines solchen Unternehmens ist vorauszusehen.

Neues Deutschland – neues Selbstverständnis

Die Bundesrepublik Deutschland ist an einem Scheideweg angelangt. Nach der Vereinigung stünde es der Republik gut an, ihr Selbstverständnis neu zu bestimmen. Die Ergänzung des Artikel116 durch ein jus soli löste zwar nicht alle Probleme, die mit Zuwanderung verbunden sind. Aber er eröffnet einen politischen Ausweg aus einer Polarisierung heraus, die nicht weiter führt, außer Wasser auf die Mühlen einer sich parlamentarisierenden neuen Rechten zu sein.

Eine Novellierung des Artikel116 läßt sich aller Wahrscheinlichkeit gerade noch und in allernächster Zukunft realisieren. Sollte sich über die unselige Asyldebatte auch noch das Parteiensystem verändern und in ein völlig anders geartetes Gemeinwesen führen, fänden sich auch weitere Chancen auf Veränderung annulliert. Das Projekt der Veränderung des Artikel116 könnte über seine neue Substanz hinaus auch die Bedeutung eines Fanals für die Parteien der Bundesrepublik annehmen – daß sie nämlich keinerlei politische windfall-Profite aus einer in der Tat ethisch unzuträglichen Diskussion, wie die über das Asylrecht, zu realisieren beabsichtigen.

Für eine derartig bundesrepublikanisch geformte Partei wie die CDU könnte sich eine Verfassungsänderung im Sinne eines jus soli wie ein letzter sinnvoller Versuch ausnehmen, ihren drohenden Zerfallsprozeß in einer Phase zu stoppen, in der dies noch möglich ist. Bislang stellt sich die Xenophobie noch als bloßes Polizeiproblem, das eher schlecht denn recht bewältigt wird. In Zukunft droht es das politische System zu affizieren.

Für die neue Bundesrepublik wiederum wäre eine Ergänzung des Artikel116 GG so etwas wie die Ausstattung mit einer Geburtsurkunde, die ihr nach innen wie nach außen gut anstünde. Und dies nicht im Sinne politischer Ästhetik, sondern als drängendes Gebot der Stunde.

Dan Diner ist Professsor für Geschichte in Essen und Tel Aviv.