„Auf dem Strich bin ich, um Sex zu lernen“

Christian, Franz, Adam, Sorynt und Mehmet arbeiten als männliche Prostituierte/ Zwischen Hauptbahnhof und Bar: Die Szene ist ganz anders als das Klischee/ Stricher organisieren sich  ■ Von Andreas Köpke

„Für mich war der Strich meine sexuelle Lehrzeit“, sagt Christian. Als der 18jährige Gymnasiast über seine Erfahrung am Hauptbahnhof berichtet, will ich es zunächst nicht glauben. Ein guterzogener, künstlerisch interessierter junger Mann, hochaufgeschossen und lebhaft, mit einem gemäßigt alternativen Touch, ein Turnschuh- Tadzio sozusagen, das will so überhaupt nicht in das Bild von männlicher Prostitution passen. Gesundheitlich schwer angeschlagene Fixer und arbeitslose ausländische Jugendliche prägen die Vorstellung von Strich-Heterosexuellen, denen es nur um das Geld geht und die ihre Freier bei jeder sich bietenden Gelegenheit beklauen und berauben. Und jetzt erzählt Christian, wie er als Fünfzehnjähriger anfing, von seinem Heimatdorf in die nächste Großstadt zu fahren, um dort sexuelle Erfahrungen mit Männern zu suchen. Ums Geld ist es ihm nie gegengen. Das war für ihn Fahrtkostenerstattung und ein zusätzliches Taschengeld. Die schnelle sexuelle Begegnung hat er gesucht. Und die ist es, die ihn auch heute noch manchmal zum Hauptbahnhof zieht, auch wenn er inzwischen nicht mehr anschaffen geht.

Für Franz (22) dagegen ist das Anschaffen eine schwule Lebensform, zu der er sich ohne Umschweife bekennt. Die Anstrengungen seines Lebens sind ihm anzusehen. Immer wirkt er überanstrengt, auch im Gespräch. Die Antworten kommen langsam. Über das Leben macht er sich keine Illusionen. Angebot und Nachfrage regeln den Markt. Sein Auftreten ist deshalb so vielfältig wie die Wünsche der Freier. Meist trägt er jungenhaft Jeans und T-Shirt, aber auch Anzug und Leder gehören zu seinem Repertoire.

Heute hat sich Franz schon fast wieder vom Strich verabschiedet. Er hat einen festen Wohnsitz, arbeitet gelegentlich als Wachmann und besucht in der Regel nur noch seine Stammfreier. Sex, so Franz, läuft mit denen nicht mehr. Meist sind es einsame ältere Schwule, denen die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich und in der Ära Adenauer die Möglichkeit nahm, einen Partner zu finden. Wenn sie sich treffen, wird gekocht, ferngesehen und geredet. Schwule Prostitution bedeutet auch immer ein ganzes Stück Sozialarbeit. Viele „Geschäfts-Beziehungen“ gehen über Jahre und sind nur über die finanzielle Dimension nicht zu begreifen. Die Stammfreier sind für Franz beispielsweise eine Art Familie. Sex gegen Geld hat Franz heute nur noch, wenn es sich besonders lohnt. Messegäste sind die Kunden, die er verwöhnt, sofern sie die Regeln des Safer Sex gelten lassen.

Franz gehört zu den Strichern, die ihre Homosexualität und ihren Beruf positiv erleben. Es macht ihm Spaß. Er liebt Männer, und die Trennung von Beruf und Privatleben ist für ihn kein Problem; in Liebesbeziehungen konnte er immer vermitteln, daß dies privat ist und nichts mit dem Geschäft zu tun hat.

Trotzdem sagt Franz, „einmal Strich – immer Strich“. Der Bahnhof hat seine Anziehungskraft nicht verloren, auch wenn er dort nicht mehr anschaffen geht. Die Konkurrenz der Drogenabhängigen und Stricher aus den ehemaligen Ostblockstaaten hat dort den Markt kaputtgemacht. Und die oftmals verheirateten Familienväter, die am Bahnhof das kurze Glück suchen, sind häufig nicht bereit, Kondome zu benutzen. Das Risiko einer Aids-Infektion wird von den Freiern meistens verdrängt; von den Strichern auch, sofern der Preis stimmt.

Christian und Franz sind nicht repräsentativ für den schwulen Strich. Christian, der Gelegenheitsstricher, für den die Prostitution in einigen Jahren nur noch eine Episode sein wird, und Franz, der offen schwule Anbieter sexueller Dienstleistungen mit Ausstiegstendenzen: sie gehören zu denen, die noch am ehesten eine positive Einstellung zu ihrer Arbeit entwickeln konnten.

Anders Adam (19): Der junge Pole, nach eigenen Angaben heterosexuell, reiste mit einem Touristenvisum nach Deutschland. Er ist in Bars auf Kundensuche. Dort werden bessere Preise gezahlt. Die Ansprüche sind aber auch höher: an das Aussehen des Strichers und die sexuelle Dienstleistung. „Weißt du“, sagt er, „in Polen mein Vater verdient 150 Mark, aber die Preise wie in Deutschland.“

In den wenigen Wochen in Deutschland hat sich Adam verändert: Die blonden Locken sind ab. Zu den Diesel-Jeans trägt er Kapuzen-Sweatshirt und Cowboystiefel. Das neue Outfit kann allerdings nicht über die schweren Verunsicherungen von Adam hinwegtäuschen. Er wirkt sprachlos, und das liegt nicht nur an den fehlenden Deutschkenntnissen.

Seine Familie ist auf den Verdienst von Adam dringend angewiesen. Zumindest auf das, was davon übrigbleibt. Den Monatsverdienst eines Polen kann Adam in einer Nacht verdienen; vorausgesetzt, er findet einen Freier. Doch die Unkosten sind erheblich: westliche Kleidung, regelmäßig zum Friseur, die Getränke in den Bars, der Unterhalt in Deutschland. Wenigstens kann er günstig bei einem Landsmann wohnen, und er arbeitet auf eigene Rechnung. Viele seiner polnischen Kollegen haben es nicht so gut. Ältere Landsmänner haben ihnen die Pässe abgenommen. Ohne Paß sind sie quasi illegal in Deutschland, und selbst die Rückkehr in die Heimat bleibt ihnen versperrt. So sind sie abhängig. Mehr als die Hälfte ihres Verdienstes müssen sie abgeben. Ein Zuhältertum entwickelt sich, das im Bereich männlicher Prostitution bislang unbekannt war.

Noch ärmer dran als Adam ist Sorynt. In seinem internationalen Studentenausweis steht, daß der Rumäne 18 Jahre alt ist. Kleingewachsen, wie er ist und eher von durchschnittlichem Aussehen, geht er aktiv auf potentielle Kunden los. Ein Verhalten, das unter Strichern eher verpönt ist. Eine Unterkunft hat er nicht. Ein Schließfach am Hauptbahnhof mit Wäsche zum Wechseln ist der zentrale Anlaufpunkt des Jungen. Wo er die nächste Nacht schlafen wird, weiß er nicht. Am Wochenende findet er meistens einen Freier, bei dem er übernachten kann. Doch unter der Woche steht er oft auf der Straße. Wer ihn nachts um drei in seiner Stammbar antrifft, kann ihn meist kostenlos mitnehmen. Die Aussicht auf eine Mahlzeit und ein Bett lassen ihn angesichts der Nachttemperaturen den Nulltarif akzeptieren. Aids ist selbstverständlich auch kein Thema, wenn der Magen leer ist.

Für Mehmet (26) war der Strich dagegen ein Abenteuer, in dem er eine Hauptrolle spielte. Schmächtig gebaut, mit feinen Zügen und einem ausgesprochenen Sinn für Ästhetik, war der intelligente und eher schüchterne Junge der Liebling vieler Freier. Heute befürchtet er, daß die Hauptrolle auf dem Strich zu einer Nebenrolle im Leben wird. Anschaffen in Bars und Clubs geht er schon seit vielen Jahren. Die Krankenversicherung ist über eine Beschäftigung als Kellner sichergestellt. Doch eine berufliche Perspektive hat der Türke nicht. Fühlte er sich als Teenager noch großartig, weil er mit dem Taxi durch die Gegend fuhr und immer die neuesten Designer-Klamotten trug, hat inzwischen Frust die Euphorie abgelöst. Auch in seiner Freizeit kommt er vom Strich nicht los. Die Bar ist seine zweite Heimat, und was er auf dem Strich verdient, wird auch dort wieder umgesetzt. Noch ist er jung und sieht gut aus. Sein charmantes Auftreten als Dienstleister sichert seinen Unterhalt. Doch insgeheim fragt sich Mehmet schon heute, was in ein paar Jahren sein wird. Mit einem Lebensstil, der von einem normalen Gehalt nicht zu finanzieren ist, gibt es nicht viele Möglichkeiten.

Christian, Franz, Adam, Sorynt und Mehmet, fünf Jungen, die nicht mehr gemeinsam haben, als daß sie auf den Strich gehen, gelegentlich oder ständig. Dem Stricher-Klischee entspricht keiner von ihnen. Alle fünf sind Einzelkämpfer, Solidarität und Zusammenhalt sind auf dem schwulen Strich eher die Ausnahme. Ein der Huren-Bewegung vergleichbares Zusammengehörigkeitsgefühl war bisher unbekannt. Jetzt allerdings hat sich in Berlin mit „quer/strich“ eine Vereinigung gebildet, die offen über das Phänomen Prostitution reden will, Stricher und ihre Freier organisieren möchte. „Es ist nicht hinnehmbar“, sagt man bei quer/strich, „daß unsere Gesellschaft die Prostitution fördert und gleichzeitig die Objekte der Begierde in die Ecke drängt.“

Thomas Schwarz (23), Streetworker der Berliner Aids-Hilfe und einer der Initiatoren von quer/ strich, hält in der Stricher-Arbeit ein zweigleisiges Vorgehen für erforderlich: klassische Sozialarbeit für die unterprivilegierten Stricher ohne Obdach und Gesundheitsfürsorge, für die, die am Rande der Gesellschaft leben. Auf der anderen Seite eine Form der Selbstorganisation von Strichern und Freiern mit dem Ziel, das Anbieten sexueller Dienstleistungen rechtlich abzusichern und die Arbeit zu professionalisieren. „Nur wer das notwendige berufliche Selbstverständnis mitbringt, wird in der Lage sein, nein zu sagen, wenn ein Freier auf unsafem Sex besteht. Neben allgemeiner Lebensberatung ist Stricher-Arbeit immer auch Aids-Prävention“, sagt Schwarz.

Stricher-Projekte wie das KISS in Frankfurt, das BASIS-Projekt in Hamburg oder das geplante Projekt SUB WAY in Berlin sind Einrichtungen, die immer mit dem Überleben kämpfen. Die Gesellschaft nimmt zwar die Dienstleistungen der Prostitution in Anspruch, mit ihren Folgen will sie aber nichts zu tun haben. Sie ermöglichen es obdachlosen Strichern, ihre Wäsche zu waschen, zu kochen, mal einen Nachmittag zu verschnaufen oder bei der Erledigung von Behördenkram geholfen zu bekommen. Möglich ist diese Form der Stricher-Arbeit nur, wenn sie mit aufsuchender Sozialarbeit verbunden ist. Thomas Möbius (37), Leiter des BASIS-Projektes in Hamburg: „Stricher gehören nicht zu den Menschen, die Beratungsangebote freier oder behördlicher Träger nutzen, wenn sie in Schwierigkeiten geraten.“

Die Gründe, sich Sex zu kaufen, sind vielfältig. Den typischen Freier gibt es genausowenig wie den Klischee-Stricher. In einer Studie kommen Manager, für die Prostitution der schnellste Weg zum Sex ist, und in einer Paarbeziehung lebende Männer, die vom Partner nicht gewünschte Sexualpraktiken erleben möchten, genauso zu Wort wie versteckte Schwule und auch Ältere, die auf dem jugendzentrierten Fleischmarkt ohne Chancen sind.

Einer davon ist Manfred (37). Seit zwölf Jahren nimmt er die Dienste von Strichjungen in Anspruch. „Für Sex mußt du immer zahlen, in welcher Form auch immer“, ist sein Standpunkt. Er bekennt sich dazu, Freier zu sein, und engagiert sich bei quer/strich, um anderen Freiern zu helfen, zu ihren Bedürfnissen zu stehen. Stefan (25), Callboy und Mitglied bei quer/strich, drückt es sehr direkt aus: „Mir ist total wichtig, daß die Gesellschaft lernt, offen mit Prostitution umzugehen und als Dienstleistung anzuerkennen. Schließlich gibt es die Prostitution seit Menschengedenken. Sex ist ein menschliches Bedürfnis und keine zur Fortpflanzung notwendige Schweinerei.“