Wortlast statt Überfrachtung

■ „Titel, Thesen, Temperamente“, das älteste überregionale ARD-Kulturmagazin, wird heute 25 Jahre alt

„Verbrennt die Opernhäuser“, hieß der Schlachtruf der 68er Bewegung, mit dem die Studentenbewegung den ehernen Kulturbegriff ins Wanken brachte. Statt schöngeistigem Gehabe wurde tatkräftiges Eintreten für soziale Gerechtigkeit gefordert. An das Massenmedium Fernsehen knüpften sich da große Erwartungen. Es sollte die Musen zu den Massen bringen.

Andererseits genoß das Bildmedium in der kulturpessimistischen Tradition einen denkbar schlechten Ruf als Ausgeburt der „Bewußtseins- und Kulturindustrie“. Eine Vermittlung dieser beiden Positionen versuchte das ARD- Kulturmagazin „Titel, Thesen, Temperamente“, kurz „ttt“: die Gratwanderung zwischen Rücksichtnahme auf die realexistierenden Bedürfnisse der breiten Zuschauermasse und den Absichten ambitionierter Macher, ein anspruchsvolles, politisches Programm zu gestalten. Mittlerweile berichtet die Sendung des Hessischen Rundfunks (HR) seit dem 4.Dezember 1967 über Kultur und ist nach „Aspekte“ (seit 1965) dienstältestes Kulturmagazin im Land.

Spartenbildung durch die Magazinform

Die in den 50er Jahren entdeckte Magazinform, welche die Lücke zwischen „Tagesschau“ und Feature schließen sollte, legte durch die Aneinanderreihung kurzer Beiträge Menge und Komplexität des Stoffes fest: Ein Kompromiß zwischen Unterhaltung und Information, der zu der heute beklagten Entpolitisierung des Programms führte. Magazine leisteten der Spartenbildung Vorschub. War das Programm vorher insgesamt durchmischter, konnte einem in der Kultursendung Politisches begegnen und umgekehrt, so führte die Spartenbildung dazu, daß Kultur und Politik auf eigene Reservate eingegrenzt – und berechenbarer wurden.

Mit dem Standort Frankfurt ergab sich für den HR die Notwendigkeit, einmal jährlich fürs Hauptprogramm über die Buchmesse zu berichten. Kurt Zimmermann suchte bereits seit April 1965 mit „Ex Libris. Neues über Bücher“ eine Form, Literatur im Fernsehen zu präsentieren. „Ex Libris“ und andere HR-Magazine wie „Studio Frankfurt“ oder „Perspektiven“ waren Fingerübungen für „ttt“. Zimmermann, mittlerweile dienstältester Kulturchef im deutschen Fernsehen, leitet seit 1967 im HR die Hauptabteilung „Kultur und Musik“. Das ttt-Konzept ist seine Erfindung.

Auf Vermittlung zielend – 70 Prozent der ttt-Zuschauer haben keine „weiterführende“ Bildung – wollte Zimmermann mit dem einprägsamen Etikett „Titel, Thesen, Temperamente“ bewußt die mögliche elitäre Assoziation „Kultur“ vermeiden. Auf der Suche nach einem Konzept, bei dem die Beiträge im Vordergrund standen, verzichtete „ttt“ nach dem Vorbild des französischen Magazins „Cinques Colonnes a la une“ auf den Starkult der Moderation und auf „zusätzliche Vorsprüche“ (Zimmermann). Von 1971 bis 1973 erzielte „ttt“ freitags um 20.15 Uhr (!) mitunter sagenhafte Quoten bis zu 33 Prozent. Ermittelten im ZDF zur gleichen Zeit jedoch Kommissar Keller oder sein Kollege Eduard Zimmermann, sanken sie unter drei Prozent, so daß man die Kultur auf den Donnerstag verlegte. Samstag und Dienstag sind inzwischen die einzigen Wochentage, an denen „ttt“ noch nicht ausgestrahlt wurde. Die Quoten pendeln nun zwischen sieben und 15,5 Prozent („Aspekte“ vom ZDF liegt oft unter 5 Prozent).

Das Kulturverständnis des HR- Magazins, operativ statt archivarisch, mobilisierte die konservative (Medien-)Kritik zu tollkühnen sprachlichen Kapriolen: Mit „routinierter linker Schräglage“ (Rheinischer Merkur) suche die „Villa Kunterbunt“ (Die Welt) als eine „elektronische Schüttelrutsche irgendwo zwischen Mitscherlich und Millowitsch“ (Mainzer Tage der Fernsehkritik, Bd. IX) nach „kultursoziologischen Spuren im Schnee von Gestern“ (Das Parlament).

Zugunsten ausführlicher Gespräche mit AutorInnen, KünstlerInnen oder WissenschaftlerInnen verzichtet „ttt“ bewußt auf „fernsehspezifische“ Gestaltungsweisen zugunsten langer Kameraeinstellungen: „Es dauert eine gehörige Weile, bis einem klar wird, daß optische Überfrachtung nichts einbringt“, sagt „ttt“-Chef Zimmermann. Das Beharren auf wortlastiger Präsentation birgt ein politisches Konzept. Worte statt Bilder bedeuten Information statt Unterhaltung. So sind 80 Prozent der „ttt“-Themen wortorientiert; Literatur und Kunst sind Aufhänger für investigative Diskurse. Aus der Sicht heute etablierter Fernsehästhetik ist „ttt“ somit zwar ein Dinosaurier, doch unter dieser Gattung der Scharfzahn Tyrannosaurus Rex.

„Die Kunst, über das Feuilleton linke Wahlkampfthesen in den Bildschirm zu träufeln, zeigt sich mit unverfrorener Perfektion“, schrieb verärgert der Rheinische Merkur 1972 über eine „ttt“-Sendung. Mit Stoppuhr und Tonband rückte zu dieser Zeit die Union dem „Regierungsfernsehen“ (HR) zu Leibe, das ihrer Ansicht nach an der Schlappe bei den hessischen Landtagswahlen nicht unschuldig war. In einem „ttt“-Live-Gespräch am 28. Januar 1972 forderte der spätere Nobelpreisträger Heinrich Böll einen gerechten Prozeß für Baader-Meinhoff und kritisierte die diffamierende, rufmordende Springer-Berichterstattung.

Böll agitierte gegen die Springer-Presse

Entgegen der bildabstinenten Tradition war der „ttt“-Beitrag „Lehrstuhl für Orgien“ vom 19.März 1989 ein reißerisch-polemischer Beitrag über den Aktionskünstler Hermann Nitsch, der nicht mit gewohnt sachlicher Argumentation, sondern mit spekulativen Signalbildern – Därme mit Dispersionsfarbe – die Botschaft suggerierte: „Satanspriester Nitsch soll ordentlicher Professor“ werden. Das Ergebnis erwies sich als publizistische Kettenreaktion. „Schweinerei des Jahres – Sex mit Gekreuzigter in ARD“ überschrieb Bild, halluzinierte ferner eine „Vergewaltigung“ und schürte die Hysterie gegen Nitsch und die Lehrinstitution.

Der angekündigte „Giftschrank“, aus dem der Nitsch-Clip stammte, erwies sich als publizistische Büchse der Pandora. Die anstehende Diskussion über journalistische Manipulation wurde durch die Frage, ob blutige Bilder gesendet werden dürfen, überlagert: Nicht wegen ehrenrührigem Journalismus mußte sich anschließend HR-Programmdirektor Conrad verantworten, sondern wegen der Verletzung von Geschmacksgrenzen und sittlich-religiösem Empfinden. „Der Beitrag hatte einfach zu wenig Worte“, resümiert Zimmermann heute. Manfred Riepe

Die Jubiläumssendung (die 371.) ist am Sonntag, den 6. Dezember um 21.45 Uhr zu sehen.