„Eine falsche Stabilität für die großen Parteien“

■ Laurent Joffrin, Vize-Chefredakteur von „Le Nouvel Observateur“, über Frankreichs Mehrheitswahlrecht als trügerisches Bollwerk gegen kleine Parteien

taz: Frankreich erlebt derzeit den Niedergang der regierenden Sozialistischen Partei. Wer profitiert davon?

Laurent Joffrin: Zu allererst wird die Rechte davon profitieren, denn sie wird logischerweise – aufgrund des Mehrheitswahlrechts – die Macht übernehmen. Die Mechanik dieses Wahlrechts wird den Konservativen im März eine überwältigende Mehrheit im Parlament sichern. Die PS steckt bis zum Hals in Schwierigkeiten: zum einen hat sie ihren moralischen Kredit verloren, schuld daran ist der Skandal um die Parteienfinanzierung und der Skandal des verseuchten Bluts. Zweitens hat ihre Wirtschaftspolitik im sozialen Bereich keine überzeugenden Ergebnisse gebracht. Von einer sozialistischen Partei wird erwartet, daß sie die sozialen Ungleichheiten verringert. Das hat nicht funktioniert.

Entspricht das Links-rechts- Schema wirklich noch der Realität im Land? Oder führt allein das Mehrheitswahlrecht dazu, daß die Blöcke bestehen bleiben und die Opposition von der Auszehrung der PS profitieren kann?

Nein, ich glaube nicht, daß ein Verhältniswahlrecht den Sozialisten geholfen hätte, im rechten Spektrum noch Koalitionspartner zu finden. Andere Kräfte, also die Zentristen oder die Öko-Parteien, haben kein Interesse daran, sich mit einer Partei zu verbinden, die so tief in Probleme steckt. Das würden ihre Wähler nicht verstehen. Doch eins ist sicher: Das Mehrheitswahlrecht wird den Sieg der Rechten vergrößern.

Bei den Regionalwahlen vom März, die unter Verhältniswahlrecht stattfanden, konnten die Bürgerlichen jedoch nicht von der Schwächung der PS profitieren. Damals gewannen eindeutig die Kleinen: die beiden Umweltparteien und die „Front National“.

Jetzt steht aber etwas anderes auf dem Spiel, jetzt geht es um die Regierung. Es gibt keine Partei außer der Rechten, die regieren könnte. Die kleinen Parteien sind völlig heterogen. Da sie keine besonderen Ideen vertreten, sondern für ökologische, kommunistische oder nationalistische Ideologien eintreten, können sie sich nicht mit anderen verbünden – Öko-Parteien und Rechtsextreme noch weniger als die Kommunisten. Bei Verhältniswahlrecht hätten sie natürlich großes Gewicht in der Nationalversammlung. Doch um eine Regierung zu bilden, muß man im Parlament eine Mehrheit hinter sich bringen, und das schaffen die kleinen Parteien nicht.

Wird das Mehrheitswahlrecht bei all dem noch den Wünschen der WählerInnen gerecht?

Ich denke ja. Nach den Regionalwahlen war die Regierung versucht, das Verhältniswahlrecht auch für die Parlamentswahlen einzuführen. Doch nachdem es in den Regionalparlamenten zu wenig ruhmreichen Manövern mit völlig unerwarteten Koalitionen gekommen ist, wuchs die Ablehnung des Verhältniswahlrechts. Vor sechs Monaten hat die Regierung es schließlich mit der Zustimmung der Bevölkerung abgelehnt, auch wenn das den Öko-Parteien und der Rechtsextremen überhaupt nicht gefiel. Letztendlich hat der Wähler durch das Verhältniswahlrecht weniger Macht, obwohl alle Parteien Abgeordnete erhalten. Doch danach muß ja eine Regierungskoalition gefunden werden, und da wäre dann die Tür für unendliche Verhandlungen geöffnet. Das wäre eine völlig unstabile Situation. In Frankreich herrscht jedoch eine Phobie vor parlamentarischer Instabilität.

Wie geht es weiter? Kann dieses stabile bipolare Schema Bestand haben?

Wenn die Rechte einmal gewonnen hat, wird sie kein Interesse an der Einführung des Verhältniswahlrechts haben. Die Rechte wird die Illusion haben, daß sie die ganze Macht besitzt, doch ihr Halt in der Bevölkerung wird viel geringer sein, als es die Zusammensetzung des Parlaments suggeriert. Da sie zudem mit enormen Problemen konfrontiert sein wird – Arbeitslosigkeit, Streiks, Revolten in den Vorstädten – könnten wir eine Regierung haben, die im Parlament sehr stark und im Land äußerst schwach sein wird. Es wird eine falsche Stabilität sein. Das Gespräch führte Bettina Kaps