Spinner und besonnenes Verhalten

■ Rechtsradikale in Hamburg: Ohne die Verharmlosung früherer Jahre gäbe es einige Probleme weniger

Während der Bürgerschaftsdebatte in der vergangenen Woche über die Morde in Mölln fand Bürgermeister Henning Voscherau folgende Worte: „Gestehen wir es uns ein, den Zeitpunkt, den Anfängen zu wehren, haben wir längst hinter uns. Diese Situation ist neu.“

Was Voscherau so scheinbar selbstkritisch von sich gegeben hat, verdient auf den ersten Blick Zustimmung, aber wirklich nur auf den allerersten Blick. Denn er hätte es besser wissen und schon zeitig reagieren können. Voscherau gehört seit 1974 der Bürgerschaft an. Und was sich just in jenen Jahren in der Hamburger Neonazi- Szene tat, sorgte immer wieder für Aufsehen.

Hamburg galt Mitte der siebziger Jahre als eine der Nazi-Hochburgen in der Bundesrepublik. Lange Zeit konnte der sogenannte „Freizeit- Verein Hansa“, besser bekannt unter dem Namen „Hansa-Bande“, mehr oder minder ungestört Nazi- Parolen schmieren und jüdische Friedhöfe zerstören. Gründer und Chef der Hansa-Bande war der inzwischen verstorbene Michael Kühnen. Der zweite Mann hinter Kühnen war Christian Worch, der heute noch einer der führenden Nazi-Köpfe ist und erst kürzlich wegen des Überfalls in Rostock- Lichtenhagen wieder in die Schlagzeilen geriet.

Die Gefährlichkeit von Kühnen und Worch wurde damals von der Politik heruntergespielt, sie waren nicht mehr als „Spinner“ und „ewig Gestrige“. Deren Rolle als Kristallisationspunkte für die westdeutschen Neonazis wurde ignoriert, zumindest aber öffentlich nicht eingestanden. Und das, obwohl es in den siebziger Jahren in der Bundesrepublik eine breite und effektive antifaschistische Bewegung gab, die oftmals erheblich besser informiert war als jeder Verfassungsschutz. Zusammen mit der Nazi-Vergangenheit zahlreicher Würdenträger in Politik und Justiz entstand daraus eine Gemengelage, die bis hin zur Begünstigung der Neonazis reichte, und wenn sie auch nur darin bestand, daß bestehende Gesetze nicht angewandt wurden.

An einem Wochenende im Januar 1978 konnte in einer Luruper Gaststätte ein bundesweites NSDAP-Treffen stattfinden. Angereist waren sämtliche Neonazi- Größen der Republik und etwa 800 Gegendemonstranten. Einen Tag später erklärte der damalige Innensenator Werner Staak (SPD) in einem Rundfunkinterview, die Versammlung sei zwar angemeldet, aber als „nicht öffentlich“ deklariert gewesen. „Von dorther war es uns nicht möglich, ein Verbot auszusprechen.“ Daß die Polizei auf die Gegendemonstranten eindrosch und den Nazis, die fast ausnahmslos SS-Totenkopf-Embleme an den Revers trugen, ein Spalier zum Veranstaltungslokal bildete, bezeichnete Staak als „besonnenes Verhalten“.

Die Paranoia des Staates vor der RAF war allgegenwärtig. Derart, daß sich die Neonazis nahezu ungestört tummeln konnten. Bis es 1980 in Hamburg den ersten Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim gab, bei dem zwei Vietnamesen getötet wurden. Die Politik sprach etwa zeitgleich zwar Verbote von Neonazi-Organisationen aus, aber sofort entstanden neue. Deren „Führer“ sind bis heute noch aktiv. Norbert Müller