Lieder wie Landkarten für die Flucht

■ Die große amerikanische Folksängerin Odetta Gordon über Weihnachten und andererseits die Macht ihrer Spirituals / Heute in Bremen

Odetta Gordon ist in über vierzig Bühnenjahren mit ihrem immensen Repertoire an Worksongs, Wiegenliedern, Spirituals und Bluessongs zur großen Dame der amerikanischen Folkmusik geworden. Bob Dylan, Janis Joplin, Pete Seeger, Tracy Chapman und Michelle Shocked sind von ihr beeinflußt worden. Jenseits aller modischen Strömungen hat sie in der Folkmusik den gleichen Status wie Ella Fitzgerald im Jazz.

Mrs. Odetta, auf Ihrer aktuellen Platte singen sie ausschließlich

hierhin bitte

die strahlende

Schwarze

„Christmas Spirituals“. Müssen wir uns auf ein weihnachtliches Konzert einrichten?

Odetta Gordon: Nein, daß ich gerade jetzt hier auftrete, ist eher zufällig, aber ich werde vielleicht etwas mehr Spirituals singen als zu anderen Zeiten. Bei der Berieselung mit weihnachtlichen Weisen leiden ja viele schon Anfang Dezember an einer Überdosis. Mir geht es auch so, aber die Weihnachtslieder, die ich singe, sind sogar in den USA wenig bekannt. Und sie haben nichts mit diesem süßlichen „Here comes Santa Claus“ gemein. Wie alle Spirituals waren sie extrem wichtig für die schwarzen Landarbeiter und Sklaven, deren Stämme, Familien und Gemeinschaften auseinandergerissen wurden. Sie fanden dann viel Trost in der Bibel und schufen sich mit Hilfe ihrer Geschichten, Lieder und Kirchen Ersatzfamilien. In einigen dieser Lieder verwechselten die Texter zwar Weihnachten und Ostern, aber die spirituelle Tiefe, diese Grundstimmung des ermutigenden Feierns, gilt ohnehin in jedem Fall.

Folkmusik hat also den schwarzen Amerikanern beim Überleben geholfen?

Es gab Lieder, die wie Landkarten zeigten, wie man am besten von den Plantagen entkommen konnte. Für mich erzählt die Folkmusik von einer anderen Vergangenheit als die Geschichtsbücher. All die Helden, die dort gefeiert werden, Generäle, Politiker, Richter oder Automobilfabrikanten sind doch die Menschen, die uns am meisten vergewaltigt und beraubt haben. Mit dieser Musik aber habe ich den Wert unserer schwarzen Kultur kennengelernt, denn damals wurden Farbige in der populären Kultur, in Filmen oder Zeitschriften nur entwürdigend portraitiert. Mit der Musik bekam ich Selbstbewußtsein. Und so konnte ich lernen, mich und alles um mich herum weniger zu hassen.

Aber gehören nicht auch in den USA die Zuhörer fast ausschließlich zum weißen, gebildeten Mittelstand?

Das war immer so, selbst als die Folkmusik ihren Boom erlebte, spielten wir meist in Coffeeshops und Konzerthallen in der Nähe der Universitäten.

Wie kam es zu diesem Boom?

Damals wurde die Unterhaltungsindustrie auf mich und meine Freunde aufmerksam.

Es gab Lieder, die wie Landkarten zeigten, wie man von den Plantagen entkommen konnte

Wir spielten uns meistens Lieder in irgendwelchen Wohnzimmern vor, einige Studenten hörten uns gerne zu, wir hatten etwas Erfolg. Dann wurde der große Scheinwerfer auf uns gerichtet, wir wurden im Radio gespielt und verkauften eine Menge Platten. Aber die Industrie ist unbeständig, sie braucht immer neues Blut, und so endete unser Boom. Aber gerade jetzt habe ich das Gefühl, die Folkmusik ist wieder im Aufwind. Tracy Chapman oder auch Susan Vega haben Erfolg, ohne daß sie sich sexy anziehen oder anderen Stereotypen entsprechen. Da passiert etwas.

In ihrer Glanzzeit war die Folkmusik vollgestopft mit Rebellion und politischen Botschaften. Was ist davon übriggeblieben?

Der schlimmste Moment meiner Karriere war, als ich merkte, daß ich mit meiner Musik nichts wirklich ändern konnte. Ich hatte bis dahin die Vorstellung gehabt, daß ich nur alles richtig und gut machen müßte, um wie mit einem Zauberstab die Zuhörer, die Zustände und überhaupt alles verändern zu können. Aber mit Musik alleine ändert sich nichts. Diejenigen, die sich gegen die Mächtigen wehren, können in meine Konzerte kommen, sich entspannen und etwas für ihre spirituelle Seite tun. Morgen können sie dann vielleicht mit neuer Energie den Kampf fortsetzten. Interview: Wilfried Hippen

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