NS-Rassismus als Verwaltungsakt

■ „Steglitz im Dritten Reich“ – Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus in Steglitz

Nationalsozialistische Verfolgungs- und Mordpolitik konkretisierte sich in einem spezialisierten Verwaltungshandeln. Den Spuren dieser Alltagshandlungen, die in den Akten der Bezirksverwaltung, in Schularchiven und den Archiven der Kirchengemeinden aufbewahrt sind, ist der Arbeitskreis „Steglitz im Nationalsozialismus“ nachgegangen. Das Ergebnis dieser Arbeit von professionellen HistorikerInnen und interessierten Laien liegt nun in einer Publikation vor, in der unterschiedliche Aspekte der Geschichte des Nationalsozialismus in Steglitz beleuchtet werden. Diese erste größere Untersuchung zum Thema „Steglitz im Dritten Reich“ stieß keineswegs auf ungeteilte Zustimmung der Steglitzer Verwaltung und anderer bezirklicher Institutionen.

Im umfangreichsten Beitrag des Bandes stellt Doris Fürstenberg die Arbeit der Steglitzer „Beratungsstelle für Erb- und Rassenpflege“ dar, eine Schnittstelle für die Umsetzung der rassistischen Bevölkerungspolitik der NS-Regierung auf Bezirksebene. Neben den Maßnahmen der „aufbauenden Bevölkerungspolitik“ – „Förderung der Familienbildung und Besserstellung kinderreicher Familien“, „Ehrenpatenschaften“ für „erbbiologisch besonders Hochwertige“ – zählte die „praktische Erb- und Rassenpflege“ zu den Arbeitsgebieten dieser Abteilung. Damit waren die nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ durchgeführten Zwangssterilisationen, die Durchsetzung des staatlichen Verbotes von „Mischehen“ und die Erfassung von „eugenisch“ und „rassehygienisch“ relevanten Personaldaten in sogenannten „erbbiologischen Karteien“ gemeint.

Die erhaltenen Akten zeigen, daß die MitarbeiterInnen der Beratungsstelle die Prämissen des nationalsozialistischen Rassismus für ihre Arbeit akzeptierten und anwendeten. „Biologische“ und „medizinische“ Kategorien trafen hier mit sozialen Ressentiments zusammen. So schreibt der damalige Steglitzer Amtsarzt Dr.Hilsinger in einem Gutachten zur Prüfung der „Ehetauglichkeit“, der sich „Deutschblütige“ unterziehen mußten: „Der Antragsteller ist jüdischer Mischling I.Grades. Seine rassenbiologische Untersuchung ergab einen stark jüdischen Einschlag. Schon bei einfacher Betrachtung ist das Fremdartige deutlich erkennbar. Es kann angenommen werden, daß den Mischling in der Hauptsache die Befriedigung erotischer Bedürfnisse zu der Deutschen zieht. Es steht zu erwarten, daß aus der Ehe der Antragsteller Kinder hervorgehen werden und daß diese durch den anscheinend stark dominierenden jüdischen Einschlag des Vaters in rassischer Hinsicht erheblich gefährdet sind. Unauffällig, gewandt, eitel (kämmt sich sofort nach der Untersuchung die Haare mit einer bei sich geführten Bürste).“

Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933 schrieb die Sterilisation „Erbkranker“ vor, wenn vorauszusehen war, daß ihre Nachkommen an „schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden“ leiden würden. Zur Anzeige verpflichtet waren alle Ärzte, beantragt werden konnte die Sterilisation nur von den beamteten Ärzten der Gesundheitsämter und den Leitern von Pflege-, Heil- und Strafanstalten. Eigens für diesen Zweck eingerichtete „Erbgesundheitsgerichte“ entschieden über die Anträge. Diese Erfassung körperlicher Leiden als juristisch definierbare Vergehen eröffnet einen Einblick in die (bevölkerungs- und sozial-)politischen Vorstellungen des Nationalsozialismus, ebenso aber in diejenigen „moderner“ Sozial- und Bevölkerungspolitik. Denn eugenische und sozialhygienische Debatten über die Verhinderung „kranken Nachwuchses“ waren keineswegs auf den Nationalsozialismus beschränkt, sie wurden bereits seit der Jahrhundertwende geführt.

Eine Reihe von Beiträgen beschäftigt sich mit den Kirchengemeinden im Bezirk Steglitz, deren Geschichte im „III.Reich“ durch die Auseinandersetzungen zwischen der „Bekennenden Kirche“ und den an der nationalsozialistischen Weltanschauung orientierten „Deutschen Christen“ geprägt war. Die Dokumente stellen die Vorstellung einer Konfrontation zwischen Bekennender Kirche und NS-Regime in Frage. Der Kampf der Bekennenden Kirche beschränkte sich weitgehend darauf, die innerkirchliche Autonomie gegen den Zugriff des Staates zu sichern. Von einer Opposition gegen die Politik des NS-Staates kann nicht die Rede sein. Seit 1936 waren die Kirchengemeinden zuständig für die Ausstellung von „Ariernachweisen“, deren Daten auf den Kirchenbüchern beruhten. Die Kirchengemeinden leisteten damit aktiv Beihilfe, Menschen jüdischer Herkunft als solche kenntlich zu machen und sie der Verfolgung preiszugeben.

In den Einrichtungen der Sozialpädagogik wurde dem staatlichen Rassismus diensteifrig in die Hände gearbeitet, wie ein Beitrag von Kurt Kruse über die Hilfsschule Steglitz belegt. Aus den christlichen oder humanen Ethiken, an denen die Heilpädagogik traditionell orientiert war, folgte kein Einspruch gegen den Auftrag „der Formung der geistig Minderwertigen zu in Gesinnung und Charakter für die Volksgemeinschaft noch brauchbaren Volksgliedern“, wie Rektor Wiemann die Zielsetzung nationalsozialistischer Sonderpädagogik formuliert. Die Lehrer dieser Schule taten sich jedenfalls nicht schwer mit den neuen Richtlinien. Die Schülerbogen, Grundlage für die Entscheidung über Sterilisationsanzeigen, sollten, so Rektor Wiemann, „nur Tatsachen, Ereignisse, Beobachtungen und innerlich zu verantwortende Bemerkungen, nie aber Stimmungen, Vermutungen“ festhalten. Wer wollte sich solch modernen, objektiven Verfahrensweisen verschließen? Die formale Richtigkeit des bürokratischen Ablaufs hat also moralische Bedenken außer Kraft gesetzt. Die von Versachlichung und Zweckrationalität geprägten Abläufe des (Berufs-)Alltags haben so weitgehend das Bewußtsein beherrscht, daß die Veränderung der Inhalte demgegenüber unbedeutend erschien. Daraus folgt die politische Frage, ob sich auch heute noch oder wieder das ganz gewöhnliche Alltagsleben mit einer Praxis der Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung verbinden würde. Birgit Bosold

„Steglitz im Dritten Reich – Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus in Steglitz“. Hrg: Bezirksamt Steglitz, Edition Hentrich, Berlin, 332 Seiten. In der Ausstellung „Zeitsplitter – Steglitz im 'Dritten Reich‘“ (bis zum 13.12. im Rathaus Steglitz) 19,80 DM.