Sturz ins Loch

„Berliner Sterben“ zwischen Kitsch und literarischer Bildung  ■ Von Hans-Joachim Neubauer

Heinrich als Held? Wer heute von einem Heinrich erzählt, meint immer auch den Grünen, gewiß auch den, vor dem es Gretchen so graut. Auch in Wolfgang Dietrichs Roman-Debüt geht es um die Kunst wie beim Maler Lee, und wie der Herr Faust hat dieser Heinrich seinen Doktor der Philosophie und strebt weg vom Schreibtisch in die Vita activa. Das Große, das Ganze also? Noch ein Held Heinrich jedenfalls.

„Ein Mensch kann zerschmettert in einem Steinhaufen liegen und das Tor der Ruine über sich sehen, durch das er fiel. Der Arm kann ihm zermalmt werden mit hörbarem Knarzen auf einem Nagelfluhfels, groß wie ein Richtblock, und er kann doch die Sterne über sich sehen. Es kann ihm ein Schrei entquellen wie ein Bärwurzelstiel; lose schwankt er im Mund und wächst vier Meter hoch. Dann knickt er ab.“ In einer Münchner Grube beginnt das „Berliner Sterben“. Dietrich erzählt die Folgen dieses Sturzes, die medizinischen und die anderen. Der Sturz ins Loch wird zum Sturz aus dem Leben und in die Erzählung.

Der gefallene Heinrich läßt sich sein Handgelenk operieren, Schäden bleiben, und Heinrich zieht vor Gericht. Wie ein anderer Michael Kohlhaas will er sein Recht und Schmerzensgeld, denn die Obrigkeit ist schuld an seinem Sturz, meint er, fiel er doch ins Loch auf öffentlichem Grund. Die Justiz erweist sich als korrupt und deckt die Verwaltung der Grünanlagen Münchens über mehrere Instanzen. Prozeßkosten: vierzehntausend Mark. Heinrich flieht vor dem Bankrott nach Berlin, das hier noch das romantische Westberlin der Inselzeit ist. Arbeit bei einem Eisenbildhauer am Luftschmiedehammer. Weitgehende Isolation, lockere Freundschaften und doch kein Leben als Flaneur. Zunehmend verwahrlost er, hungert, flüchtet schließlich dem Tode nahe zurück nach München zur Mutter. Krankheit, Unbill und bitteres Ende.

„Berliner Sterben“ ist ein Bildungsroman, in dem sich ein Akademiker von seinem Stand „schlaksiger, blaßhäutiger Schlipsträger“, der bloß die „Poren der Kultur verstopft“, endgültig verabschiedet. Die verkrüppelte Hand beendet die Lehre bei einem Steinmetz, und zum Ersatz für die Kontemplation über die „erotische Novelle in Stanzen“ wird die harte Arbeit beim Schmied. Fasziniert erlebt Heinrich die Formung des Materials: „In diesem Augenblick äußerster Glut und äußerster Krümmung zeigt sich der Geist des Materials. Er grinst aus dem tiefrot leuchtenden Eisenring. Heinrich kennt sich aus mit Geistern. (...) Der rote Ring liegt auf dem Beton, und die abspringende Asche macht ihm einen scheckigen Mantel, geheimnisvoll wie der eines Tintenfisches. Der Ring wird blau, als erkalte er in der Tiefsee. Großer Oktopus, sagt Heinrich, und bückt sich. Er spürt den warmen Atem, der von dem Rundling herbläst.“

Es liegt etwas Ernstjüngerhaftes in solch expressiv-neusachlichem Besingen der Elementarkräfte, die doch erst ein gesellschaftlicher Prozeß entbindet. Ein tiefintellektueller Zug des schmiedenden Anfängers Heinrich: er schafft ohne Bezahlung, ohne wirklich Kollege zu werden. Heinrich bleibt außen vor. Das ist auch das pathetische Programm des Buches: „Es wachsen Menschen auf, die ins falsche Jahrhundert hineingeboren sind. Es wachsen Menschen auf, die in der falschen Wirtschaftsform oder Nation geboren sind. Sie sind nicht nur Einzelgänger, sondern Verbannte. Sie gehören einfach nirgendwohin. Nirgendwohin.“

Auch das literarische Berlin ist eine Maschine, die dieses Außenvorbleiben herstellt. Am Rande der wechselnden Szenen zieht Heinrich durch die Mauerstadt, immer auf Distanz zu den austauschbaren Autoritäten des Betriebs, sei es dem „Senator Dietger Pforte“, dem „Obermalrat Penck“ oder den Leuten von der Endart- Galerie. Pappkameraden eines „Verbannten“, von dessen Bekannten nur die freundlichen Teresa und Jakob wirklich lebendig werden.

Das Buch ist dicht, eindringlich geschrieben, angelegt als ein ernsthafter Wurf. Dietrich schreibt gern, und er kann es gut, wenn er sein Sujet mag. Mit Stilformen experimentiert er manchmal wie ein Expressionist, und am schönsten finde ich ein eingelassenes wasserpolnisch-mährisches Märchen und eine lange Passage, in der sich in sächsischem Dialekt eine ferne bäuerliche Welt aus dem Elbgebirge ausspricht. Nicht alles aber ist so spielerisch-schön, und am Ende wird's ernst.

Heinrich ist nämlich ein deutscher Held, und deshalb geht es nicht nur um die Kunst und das Reden darüber, sondern um die Rückkehr in die Heimat und um den Tod. Das große Ganze also, Dietrich will es Ereignis werden lassen. Er zwingt Anfang und Ende zusammen, damit die Geschichte rund werde wie der Stahlring aus der Schmiede. Heinrich kehrt heim nach München. Ein „extrapyramidales Syndrom“ mit allem Drum und Dran zwingt ihn nieder, und weil ein „Finsterling“ mit „schwarzen Augen“ und „Hakennase wie ein Raubvogel“ die Hilfe bringende Mutter zur Unzeit überfällt, gibt's keine Medizin. Das ist ganz ernst gemeint. Heinrich stirbt, aber er erstickt letztlich wohl weniger an seinen geschwollenen Halsdrüsen als an der entschlossenen Wut, mit der sein Autor um Ernsthaftigkeit und Größe ringt.

Es ist die kalte Klammer der literarischen Konvention, die diesen Helden um die Ecke bringt, und einmal mehr deckt literarischer Bildungs-Kitsch den Tisch, wenn wir schon längst satt sind: Das Vermächtnis des Verstorbenen ist eine „rot angestrichene“ Stelle aus Bismarcks Gesprächen, wo dieser über die bösen Folgen der akademischen „Überbildung“ räsonniert.

Das ist Tiefsinn, das ist deutsch, und das ist gar nicht melancholisch, sondern verbittert. Den viel zu seltenen deutschen Taugenichtsen wäre solch ein sinntriefend „literarisches“ Ende nicht widerfahren, aber dieser Held heißt ja auch nicht Felix Krull oder Moppel Schappig, sondern ist ein Heinrich. Eigentlich schade, aber vielleicht ist ja „Berliner Sterben“ nicht Dietrichs letzter Roman.

Wolfgang Dietrich: Berliner Sterben. München, Peter Kirchheim Verlag 1992, 159 S., (mit einem schönen Frontispiz von Jakob Kirchheim) DM 24,80.