Weinlese 92: Alles im Oimer

Wie zwei Wahlberliner in einer deutsch-polnisch-türkischen Brigade am Erlenbacher Kayberg einmal 120 Ochsen fanden und dem Mysterium des Trollingers auf die Spur kamen  ■ Von Manfred Kriener

„Oiimer! Oiimer! Oiiiimeeer!“ Der Ruf nach dem Eimer kommt aus allen Ecken und dreizehn Kehlen. Pausenlos. Die Polen rufen „Oiimärr“, der türkische Kollege bringt dank eines mehrjährigen sprachbildenden Aufenthalts in der schwäbischen Metropole Sindelfingen ein lupenreines „Oimer“ zustande. Und die beiden Wahlberliner genießen die Rückkehr ins lang vermißte heimatliche Idiom mit phonetisch besonders reintönigen Rufen. Alle fünf Minuten ist der „Oimer“ voll und wird unter kräftigem Gebrüll durch einen leeren ersetzt. Anfangs war der Ruf nach dem Behältnis die einzige Kommunikation. Ein wenig verstockt saßen Polen, Türken und Deutsche am frühen Morgen im Tau zwischen den Rebzeilen verteilt, und nur das Zwicken der Scheren war zu hören. Die angereisten Berliner Amateur-Vinologen waren die ersten, die mit ihren seltsam-verzückten Aaahs und Ooohs die Stille durchbrachen: Jede besonders schöne Traminer-Traube, die sie losgeschnitten hatten, wurde triumphierend in die Höhe gehalten: „Mindestens 100 Öchsle!“ „Makellos!“ „Guck dir die an, das pralle Leben.“ Da hat sich mancher Pole an die Stirn getippt: Haben die noch nie eine Weintraube gesehen?

Die beiden Hobby-Weinleser haben mit ihrer Begeisterung das Eis gebrochen. Seitdem wird ununterbrochen gequasselt. Meist auf polnisch, denn mit sieben Männern und einer Frau dominieren die Polen in der internationalen Lese- Brigade am Erlenbacher Kayberg. Die Deutschen verstehen kein einziges Wort, lächeln den Polen aber gelegentlich zu und tauschen auch mal ein aufmunterndes „Hey Kollega!“ aus.

Die Eimer stehen jetzt mitten im Kerner, einer Rebsorte, die aus einer Kreuzung von Riesling und Trollinger entstanden und hier im Schwäbischen weit verbreitet ist. Die heftige Spätherbstsonne kitzelt die letzten Öchsle aus den Trauben, während Th. von einer 85er Kerner Auslese deliriert, die er kürzlich mit einem Kalbsrücken samt Sellerieschaum vermählt habe. Doch hier am Erlenbacher Hausberg hängen die Weinstöcke derart brechend voll, daß an Auslese-Qualitäten nicht zu denken ist. Das Menge-Güte-Gesetz ist erbarmungslos: je mehr Trauben, desto kleiner die Qualität, so will es Mutter Natur. 78 Öchsle hatte die erste Fuhre, die verladen wurde, das reicht trotz Bilderbuchwetters gerade für einen mittleren Kabinett.

Um das Mostgewicht möglichst hoch zu halten, hat der Weinbergbesitzer die Brigade zur strengen Selektion verpflichtet: „Die Oreifa müsset'r hängalossa!“ Also wurde mit dem Qualitätsbewußtsein des passionierten Weintrinkers unerbittlich ausgewählt. Schließlich sind wir keine 700 Kilometer gefahren, um „a saure Briah“ zu lesen. Nur was reif ist, kommt in den Oimer. Aber der Brigadenchef hat nicht mit der schwäbischen Sparsamkeit seines Herrn Papas gerechnet. Der 84jährige pirscht sich von hinten an und durchkämmt nochmals die schon gelesenen Rebstöcke. Alles Grüne wird vom Senior heimlich abgeschnitten und unter die übrige Ernte gemuschelt: No nix verkomma lossa. Seitdem halten wir dagegen und werfen in unbeobachteten Augenblicken die unreifen Trauben – unerreichbar für Opas Schere – ins benachbarte Rieslingfeld. Die Polen greifen sich schon wieder an die Stirn.

Trotz seines Geizes ist der Alte der heimliche Liebling im Weinberg. Mit 84 fährt er den Traktor souverän den extrem steilen Hang hinunter, mit zwei angekoppelten Anhängern und vier Tonnen Trauben im Kreuz. M. muß als Bremser mitfahren und hat überhaupt keine Angst: Bei Hitchcock haucht der ermordete Weinliebhaber seine Seele wenigstens im besten Faß aus. Aber ausgerechnet von vier Tonnen Kerner mit nicht einmal 80 Öchsle überrollt zu werden ... „Schlag d'Micke nei!“ unterbricht Opas donnerndes Kommando die finstere Kontemplation und verlangt sofortiges Betätigen der Bremse. „Etz kasch wiadr nore lossa“ heißt die Order für das Lösen der Bremsvorrichtung. Und schon stehen wir unbeschadet an Leib und Seele in der langen Schlange vor der Genossenschaftskellerei.

Der deutsche Winzer jammert immer und überall, der schwäbische erst recht. In diesem Jahr wird vor allem über die Eurokraten geschimpft. Der 92er Jahrgang wird zum ersten Mal nach den neuen EG-Vorschriften gelesen, die den Ertrag auf 140 Kilogramm je Ar begrenzen. Doch in unserem Kerner hingen deutlich mehr als drei Zentner aufs Ar. Anderswo war es nicht besser. Der 92er brachte den deutschen Winzern die größte Ernte seit zehn Jahren. Im Schwäbischen flossen 1,4 Millionen Hektoliter in die Tanks, doppelt soviel wie 1991. Die Übermengen dürfen – formal – nicht verkauft werden und wandern deshalb als „Reserve“ in den Keller, um die Ertragseinbußen in kommenden schlechten Jahren auszugleichen. Aber wenn nochmals ein Jahr mit ähnlich üppigem Erntesegen folgt? Spätestens dann, so wissen Kenner, wird die Übermenge auf dem grauen Markt verkauft. Zehn Fläschchen für den Nachbarn, zehn für Onkel Rudi und zehn für die Skatrunde. Weggekippt wird jedenfalls nichts, im Schwäbischen schon gar nicht. Die von der EG beabsichtigte gezielte Ertragsbeschränkung durch kräftiges Zurückschneiden der Rebstöcke und Ausdünnen der Fruchtansätze ist nur von einer Minderheit befolgt worden. „Onsr Hergott hots wachsa lossa“ heißt die entwaffnende Erklärung für die Massenproduktion an den Neckar- Hügeln. Solange die EG-Kommissare die Übermengen nicht persönlich in den Gully schütten, so lange wird hierzulande geerntet, was der Weinberg hergibt.

Th. träumt noch immer von seiner Auslese. Und davon, ein paar Rebzeilen zu pachten und einen eigenen Wein auszubauen. Bei aller Bescheidenheit: Das müßte natürlich der beste Tropfen werden, der einem Schwaben jemals durch die trollingergeschundene Gurgel lief. Brutale Ertragsminimierung, extrem späte Lese, strengste Selektion aller faulen und unreifen Trauben. Hach! Weinsammler Hardy Rodenstock würde vor uns auf den Knien liegend um ein Fläschchen winseln. Wir würden ihn als Weinleser anstellen und durch die Rebzeilen scheuchen, bevor wir ihm – streng limitiert – sagen wir zwei Flaschen abtreten.

Wenn nur der Rücken nicht so verdammt schmerzen würde. Spätestens am zweiten Tag hat sich die Liebhaberei in das verwandelt, was sie für jeden Polen und Türken schon lange ist: ganz normale schlecht bezahlte Arbeit. Sicherstes Indiz dafür sind die verstohlenen Blicke auf die Uhr und die Einteilung des Tages nach Eßpausen. Noch drei Rebstöcke bis zur Vesper, noch zwei, noch einer. Gegen das steife Kreuz hilft pausenloses Reden und die Ablenkung durch den Wettbewerb: Wer hat die meisten Ochsen? Besonders reife Trauben werden in den Händen zerquetscht, um den Saft auf das Refraktometer zu träufeln. Mit einem Blick läßt sich dann der Zuckergehalt ablesen. Der Rekordwert an diesem Nachmittag steht bei 120 Öchsle.

M. schlägt vor, im nächsten Jahr für ein eigenes Faß nur die Trauben am sonnenverwöhnten Weinbergstor zu lesen, die besonders reif sind. „Den Torwein könnten wir dann ,Cuvee Andreas Köpcke‘ nennen.“ Es gibt so schöne Ideen und so viel harte Arbeit. Aber Strafe muß sein: Jeder Weintrinker, so unser kategorischer Vorschlag zur Sozialisation aller Weinnasen, wird künftig zwangsverpflichtet, das Äquivalent an Trauben zu lesen, das er während des Jahres an Wein trinkt. Alles andere, da sind wir uns einig, wäre ein Abwälzen der Arbeit auf den schmerzenden Rücken der Arbeiterklasse. Noch vier Rebstöcke bis zum Lagerfeuer, noch drei, noch zwei ...

Seit der Erfindung der Weinflasche werden nachmittags in jedem anständigen deutschen Weinberg für die Leser-Brigaden Würste am Lagerfeuer gegrillt. Bei uns gibt es dazu einen ruppigen Schwarzriesling, einen riesigen Laib Holzofenbrot und Opas strahlendes Gesicht. Der Wein wird aus großen Sprudelgläsern wie Wasser getrunken, und spätestens nach dem dritten Glas berichtet der 84jährige Senior ausführlich, daß ihm „als Jonger dia schwarze Mädle emmer liabr waret als dia Blonda“. Das sind dann die Augenblicke, in denen sein einziger Zahn zu seinem Recht kommt und, eingerahmt von weißen Bartstoppeln, aus dem lachenden Mund unternehmungslustig in die Runde bleckt. Sein Vergleich mit blond und schwarz scheint auch die Polen zu amüsieren, bestimmte Späße brauchen keinen Übersetzer.

7,50 Mark bekommen die polnischen Weinleser in der Stunde. In drei Tagen verdienen sie damit soviel wie zu Hause in einem Monat. Weil sie „die Preise kaputtmachen“, solle man sie am besten wieder nach Hause schicken, haben in Berlin einige linke Stammtischstrategen als Parole ausgegeben. Wollen sie dann selbst den Wein lesen für 9,50 Mark die Stunde? Drei Wochen lang mit krummem Buckel? Tausend Kilometer sind die Polen gefahren, um hier während der Weinlese ein wenig am deutschen Wohlstand zu knabbern. Sie schlafen auf dem Campingplatz, im Auto oder bei gutem Wetter einfach im Weinberg. Im Kreis Heilbronn sind während der Ernte mehr als tausend Polen als Erntehelfer angestellt, schätzt der Weinbergbesitzer.

Die Butterbrote werden von den Polen nicht geschmiert, sondern mit fingerdicken Stücken belegt. Die einzige Frau in unserer Männerrunde, „Madame Elegantskaja“ – sie wird wegen ihres für die Weinlese ungewöhnlich schicken Outfits so gerufen –, vermischt

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den Schwarzriesling mit Orangensaft und schwört auf ihre Polska- Schorle. Die bevorstehende Vesperpause hatte sie zwanzig Minuten zuvor mit ihrem unnachahmlichen Ruf „Hey Kollega, Chef sprechen essen“ angekündigt. Jetzt macht sie sich wieder auf den Weg in den Kerner, während wir noch das benachbarte Trollinger-Feld bewundern.

Die ungebrochene Liebe der Schwaben zu dieser Rebsorte war immer etwas mysteriös geblieben. Die Weinernte 92 bringt endlich Aufklärung. Nicht drei, sondern mindestens vier Zentner aufs Ar hängen in blauen Traubeneiern an den Trollinger-Stöcken. Keine andere Rebsorte liefert solche Massen. Das Menge-Güte-Gesetz, so erfahren wir, ist beim Trollinger ein wenig außer Kraft gesetzt. Ausdünnen erhöht die Qualität bei dieser Sorte nur begrenzt, weshalb man sie meist wuchern läßt. Und noch was: In leicht verregneten Sommern gedeiht der Trollinger oft am besten. Wir sehen: Hier hat nicht nur der Geiz der Schwaben, sondern auch die klimatische Insuffizienz der Region das vinologische Pendant gefunden. Trotz italienischen Sommers lieferte der Trollinger dieses Jahr gerade 65 Öchsle im Landesdurchschnitt. Gott sei Dank, daß es noch die Firma „Südzucker“ gibt.