Das andere Kap

Zwei neue Bücher des französischen Philosophen Jacques Derrida nach dessen intensiver Begegnung mit Amerika: Europas Identität von der Andersartigkeit her bestimmen  ■ Von Uli Hausmann

Auch wenn der Sitz seines deutschen Verlegers die Mainmetropole ist und auch wenn seine Texte durchaus nicht zu den schlechtverkauften gehören: Zu sagen, der französische Philosoph Jacques Derrida wäre in Frankfurt als philosophischem Ort wohlgelitten, ginge an den Tatsachen vorbei. Zu sehr beißt sich sein theoretischer Ansatz mit dem in Frankfurter Tradition gepflegten kritischen Denken. Bisweilen hat man dem Denken Derridas, und zwar insbesondere seit seinem rasenden Erfolg in den USA zu Beginn der 80er Jahre, hierzulande – in denunziatorischer Absicht – das Etikett „Dekonstruktivismus“ angeheftet.

Damit wollte man den Gegensatz zwischen einem Denken, das eben seine Gegenstände „dekonstruierte“, um sie dann in angeblicher postmoderner Beliebigkeit wieder zusammenzusetzen, und dem kritischen Ansatz in der Tradition von Kant und Hegel herausstreichen, wo die „Arbeit der Kritik“ auf Wahrheit ziele. Das hämische „Derridadda“ eines Berliner Professors wird der einen oder dem anderen noch geläufig sein. Allerdings entging diesen Kritikern die Ernsthaftigkeit des theoretischen und praktischen Engagements Derridas. Gehörte er doch von Anfang an zu den bedingungslosen Unterstützern der Charta '77 und wurde in der ČSSR dafür auch einmal kurz verhaftet. Auch die zum Teil ausgesprochen innovativen und das Denken bewegenden Resultate wurden außer Acht gelassen.

Ungleichgewicht zwischen Recht und Gerechtigkeit

Einen Beweis für Derridas Innovation liefern die beiden jüngst erschienenen Bücher mit überarbeiteten Fassungen von insgesamt vier Vorträgen. Offensichtlich hat die Begegnung mit Amerika Derrida, der in der zweiten Hälfte der 60er Jahre in Deutschland mit „Die Grammatologie“ und „Die Schrift und die Differenz“ bekannt wurde, dazu angestoßen, sich stärker mit unmittelbar politischen und verfassungstheoretischen Fragen zu befassen. „Gesetzeskraft“ ist ein zweiteiliger, in Amerika im Rahmen eines Colloquiums gehaltener Vortrag, in dem Derrida einen seiner für ihn so typischen theoretischen „Randgänge“ organisiert. Die Vorlage liefert ein Text von Walter Benjamin („Zur Kritik der Gewalt“). In der Tat: Derrida folgt dabei einem Muster, das mit auf Überwindung zielender Kritik nichts im Sinn hat. Dekonstruktion: Schon Nietzsche sprach von der Notwendigkeit einer „chemischen Dekonstruktion“ der philosophischen Begriffe. Sie suche zwar den Gegenstand zu zerlegen, bleibe sich aber dabei bewußt, daß sie ihn nicht loswerde, sondern nur in anderer Weise arrangiere.

In gewisser Weise ist uns unsere Gegenwart immer nur von der „grammatikalischen Kategorie des zweiten Futurs“ her zugänglich, die aber in Wirklichkeit nur ein Nicht-Wissen kaschiert. „Gerade in diesem Nicht-Wissen besteht das Ereignishafte des Ereignisses, das, was man auf naive Weise als dessen Gegenwart, als dessen Vorhandensein bezeichnet.“ In einem recht langen Vorlauf versucht Derrida zu begründen, wieso die Dekonstruktion sich in der Tat ausgezeichnet auf die theoretischen Verfassungsfragen applizieren läßt. Kurz gesagt meint er, bevorzugter Ort der Dekonstruktion seien die Aporien. Eine der unsere Zeit vor allem bestimmenden Aporien sei nun einmal das Ungleichgewicht zwischen Recht und Gerechtigkeit.

Und genau diese Grauzone war auch das Thema von Benjamins Essay „Zur Kritik der Gewalt“ gewesen. Benjamin hatte keineswegs die Gewalt schlechthin verdammen wollen, sondern seine Kritik galt vor allem der „begründenden Gewalt“ revolutionärer Bewegungen, die im Falle ihres Sieges wieder neues positives Recht setzten.

Es ist ungeheuer spannend – und im Vergleich zu den oft ermüdenden Legitimationsanstrengungen der Diskursethiker geradezu Balsam fürs Hirn –, zu sehen und zu lesen, wie Derrida ganz allmählich sich in den Text von Benjamin hineinverwebt und über ein ebenso behutsames wie beharrliches Fragen einen alten Text für eine heutige Frage gewissermaßen verflüssigt. So etwa, wenn er den Satz Benjamins, es sei „etwas Morsches im Recht“, öffnet zu einer Reflexion über die Kategorie des Schicksals und der Einzigartigkeit– und damit implizit auch der Verantwortlichkeit jedes einzelnen für das, was er tut –, die am Ursprung der unbestimmten Rechts- (und damit auch Gewalt-)Drohung steht. Die Todesstrafe ist jener Punkt, an dem die setzende Kraft des Rechts absolute Gewalt ist. Greift man die Todesstrafe an, dann stellt man gerade diese Bedingungslosigkeit in Frage. Man bestätigt damit in der Tat, daß im Recht etwas „Morsches“ ist.

Zur Frage von Gerechtigkeit und Gewissen

Hinter all den Reflexionen steckt nicht in erster Linie ein philologisches Bemühen, sondern, wie aus dem „Postscriptum“ zu Gesetzeskraft, das dem Denken der Gewalt im Angesicht der „Endlösung“ gewidmet ist, ganz deutlich wird, die Frage nach der Gerechtigkeit und dem Gewissen. Um die unauflösliche Schwebe, die Antinomie der Demokratie und ihrer Prämissen, die weder durch eine vorgegebene noch durch eine regulative Idee aufgehoben werden kann, geht es auch im zweiten Band von Derrida. „Das andere Kap“ ist die überarbeitete Fassung eines Vortrages auf einer Tagung in Turin im Jahr 1990 zum Thema „Die kulturelle Identität Europas“. Gewiß, eine solche Fragestellung ist in mehr als nur einer Hinsicht ein „Minenfeld“. Zum einen ist da die alte Gegnerschaft gegen Eurozentrismus, gewissermaßen die abgemilderte Form des Antiimperialismus, und auf der anderen Seite sind die aufblühenden europäischen Nationalismen, die am liebsten das ganze Thema vom Tisch haben möchten.

Und dennoch gelingt es Derrida, ein theoretisches Unterfangen zu realisieren, ohne seine moralischen Absichten ins Unrecht zu setzen. Im Kern argumentiert Derrida für einen „schwachen Pragmatismus“ in theoretischen Fragen, d.h. ein Agieren auf der politischen Bühne, das Differenz und Singularität achtet. Dabei stellt er sich die Frage, ohne allerdings eine Antwort darauf zu geben, „welche Philosophie der Übersetzung [...] in Europa wohl ausschlaggebend sein [wird]“. Derrida argumentiert vor allem für ein Europa, das sich aus seinem Gedächtnis heraus nicht in einer vermeintlichen Identität abschließt: „Ich möchte nicht nur mit den Mitteln der Forschung [...] und der Philosophie jenes suchen, was sich bereits außerhalb Europas befindet; es geht mir vor allem darum, nicht im voraus der Zu- kunft des Ereignisses einen Riegel vorzuschieben: der Zukunft des Kommenden, der Zukunft dessen, was vielleicht kommt und was vielleicht von einem ganz anderen Ufer aus kommt.“

Jacques Derrida: „Gesetzeskraft. Der ,mystische Grund der Autorität‘“. Übersetzung aus dem Französischen: Alexander Garcia Düttmann. Suhrkamp Verlag Frankfurt/Main 1992, 125 S., 10 DM

Ders.: „Das andere Kap. Die vertagte Demokratie“. Zwei Essays. Übersetzung aus dem Französischen: Alexander Garcia Düttmann. Suhrkamp 1992, 98 S., 14DM