Ein Festival rückt zusammen

Das 35. Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm  ■ Von Dietmar Hochmuth

Die Leipziger „Dokfilmwoche“, wie sie früher hieß, durchlebte in den letzten drei Jahren schwere Krisenzeiten. Mit der plötzlichen Implosion der DDR verlor auch dieses „Tor zur Welt“ über Nacht seine Akzeptanz, und das gleich weltweit. Dennoch blieb die alte Hülle, die nicht mehr mit Leben zu erfüllen war. Nun, im 35. Jahr, scheint das Festival zu einer neuen Identität zu finden. „Wir sind zusammengerückt“, sagte die Festivalleiterin Christiane Mückenberger nicht ohne Melancholie – und meinte damit nicht nur den Umzug aus dem 1.200-Plätze-Kino „Capitol“, das 1991 schmerzlich leer blieb, sondern auch das Zusammenrücken des letzten Häufleins Filmleute, die mit dem denkbar schwer verkäuflichen Dokument auf Zelluloid die Welt nun zwar nicht mehr verändern, dafür aber sehen wollen, „was wirklich los ist“. Damit hat das Festival auch ein neues Motto; das traditionelle („Filme der Welt für den Frieden der Welt“) war in Wendezeiten der Tautologie „Für die Würde des Menschen“ gewichen und ist nun nicht mehr so devot, geradezu kämpferisch: In einer vermeintlich erweiterten Öffentlichkeit kontert es die Werbezeile der Zeitung mit den größten Buchstaben und dem wenigsten Inhalt in Deutschland, die mit Sprüchen wie „Lesen, was los ist“ nun auch das ganze neue Legoland Leipzig überklebt hat.

Das Festival im Kino „Casino“, das 1913 eröffnet wurde und im nächsten Jahr, nachdem es drei Systeme überdauert hat, einem Schuhmarkt oder ähnlichem Platz machen muß. Damit stirbt wie unterderhand das traditionelle Programmkino Leipzigs, das sich in DDR-Zeiten für die Arbeit mit dem nichtkommerziellen, auch Archivfilm einen Ruf gemacht hat – ein Tribut also des Festivals an eine Spielstätte, die über viele Jahre hinweg seine Retros beherbergte. Der Dokumentarfilm scheint heute nur noch auf Festivals und in Fernsehprogrammen Asyl zu finden. Für Westler mag das keine neue Erkenntnis sein – für die Organisatoren von Leipzig hingegen eine Erfahrung, auf die sie entsprechend reagieren müssen, und so nimmt man im Interesse von (reduzierter) Festivalöffentlichkeit zur Präsentation des Bildes von einer zerrissenen Welt schon mal hier und da einen bereits irgendwo gesendeten oder gezeigten Film in Kauf, ehe er ganz untergeht in der Flut der mechanisierten Bilder. Genauso, wie man dem Festival immer weniger anlasten kann, daß es heute nicht mehr die Wirkung von damals hat, als es vom Ost-West-Konflikt zehrte – dem offensichtlichen Hauptimpuls des Dokumentarfilms der vergangenen Jahre. Es beginnt sich darauf einzustellen. Trotzdem ist es schade, daß heute nur schwer eine Diskussion zustandekommt. Fast ist – unfreiwillig – der Stand des Leipziger Jahres 1988 erreicht: Mit der Auflösung des traditionellen, ewig geglaubten Ost-West-Konflikts in ein neues gesamteuropäisches Wohlgefallen scheint aber auch der Dokumentarfilm seine alte Identität eingebüßt zu haben, seine Würze.

Ein Indiz dafür lieferte der Eröffnungsfilm „Störenfried“ von Thomas Frickel, eine unverhältnismäßig lange Recherche zu Leben und Freitod des DDR-Pfarrers Brüsewitz. Der Regisseur verfolgt auf vielen Pfaden (fast 30 Interviewpartner) die Spuren eines Mannes, der in einer vom Systemkonflikt bis zur gelähmten Normalität dominierten Zeit nicht normal genug war und mit seinen Auftritten, schließlich seiner Selbstverbrennung ein Zeichen setzte, das von der einen Seite verschwiegen, von der anderen vereinnahmt wurde: Rasch wurde aus dem Namen Brüsewitz ein gesamtdeutsches Tabu. Am Ende von unzähligen Interviewmontagen, die leider zu oft die Befragten nicht ausreden lassen, bleibt das Wesen dieses leidenschaftlichen Polit-Kauzes, der in jeder Zeit zum falschen Augenblick geboren wäre, ein Geheimnis, auf das man jedoch nicht gespannt ist. Frickel zerschneidet Antworten und schachtelt sie, in Montage mehr verliebt als in seinen Gegenstand, so bemüht ineinander, daß er in der Personalunion Regie/Kamera/Schnitt etwas überfordert scheint, besonders da, wo er auf illustrierende Nachstellungen und Wortbebilderungen zurückgreifen zu müssen glaubt. In seiner etwas rückwärts gerichteten, abgeklärten Brisanz (im Grunde geht es gegen den deutschen Kleinbürger, der wir ja Gottlob alle nicht sind) steht der Film in der Leipziger Tradition des „außenpolitischen Films“. Nicht einmal stellt Thomas Frickel sich die Frage, warum er erst heute diesen Film macht, wo alles klar und erledigt scheint.

Eine ganz und gar andere „Leipziger Altlast“ sind die Filme von Volker Koepp, dessen jüngste Arbeit „Neues in Wittstock“ hier – wie selten auf einem Festival – zu recht mit der Goldenen Taube und dem Preis der FIPRESCI bedacht wurde. Koepp hatte, wie sein Kollege Winfried Junge, die permanente Vollförderung des DDR- Films zu nutzen gewußt und sich über Jahrzehnte Langzeitbeobachtungen verschrieben.

1974 ging er nach Wittstock, das seit der Wiedervereinigung im Brandenburgischen liegt, und sah sich nicht, wie vielleicht naheliegend, in einem eben erst aus dem Boden gestampften Textilkombinat um, sondern in den Gesichtern und damit Seelen einiger Mädchen und Frauen im Umfeld dieses recht unerschrocken angegangenen Sozialexperiments der Industrieansiedlung. Koepp fuhr über viele Jahre vier Filme aus Wittstock ein und hat nun mit einem Pfund zu wuchern, indem er in Zeiten eines neuerlichen, vorher ungeahnten Umbruchs nachhakt und die Schicksale seiner Heldinnen von damals neu aufrollt. Er tut dies äußerlich denkbar schmucklos wie früher, ohne sich zu winden und zu wenden, und ruft allein schon damit einen Wert des DDR-Dokumentarfilms ins Gedächtnis, von dem so mancher westliche Kollege schon aufgrund der, durch die Kleckerförderung verhinderten, Kontinuität weit entfernt scheint. Koepp beobachtet seine Wittstockerinnen in den Rückblenden wie auch Nachfragen nicht schlechthin mit der Solidarität eines Intellektuellen oder dem weiten Herz des „Mannes mit der Kamera“. Die Poesie seiner Bilder ist durchdrungen von einer Art sozialen Erotik, wie sie weder von Arbeiterstandbildern noch aus linken Werkkreis-Verklärungen zu gewinnen ist. Koepps Filme aus Wittstock atmeten immer eine Tristesse, deren Gnadenlosigkeit zu DDR-Zeiten eigentlich immer aufgefangen war durch die Genugtuung, daß sie gezeigt, veröffentlicht wurden. Zudem steuern sie heute wie damals mit einer feinen Komik gegen, die selbst den gräßlichsten Verfall über die Tendenz ins Nachdenkliche hinweghebt. Natürlich ist Wittstock heute abgewickelt, das Kombinat verkauft – keiner weiß, an wen. Nun hat „The New Yorker“ die Bekleidungsträume der Töchter der Abgewickelten fest im Griff, und ein heimgekehrter Alteigentümer, nun Treuhänder in Schwerin, geht die Christianisierung des Ostens an – denn wo bleibt sonst die Kirchensteuer, das Tor zum Werk schließt sich für die Dreharbeiten endgültig – ein Kapitel in Koepps Filmografie scheint von nun an regelrecht verrammelt, und doch wirkt „Neues in Wittstock“ an keiner Stelle weinerlich – wie so viele DEFA-Filme seit dem mittlerweile haßgeliebten Umbruch.

Es kamen nicht nur aus dem Osten Deutschlands, sondern auch aus Osteuropa auffällig weniger Filme nach Leipzig. Und wenn, dann waren es nicht selten Filmzeugnisse, die entweder neuer Konjunktur verfallen schienen oder ein Bild der totalen Orientierungslosigkeit und Verwirrung boten. Dafür rückte die sogenannte „Dritte Welt“ wieder mehr in den Vordergrund, allerdings weniger mit Filmen von dort als mit solchen, die über die Dritte Welt gedreht wurden. Eines der besseren Beispiele war „Das Ende einer Reise“ des Münchners Heiner Stadler. Sein Film wiederholt minutiös eine historische Kreuzfahrt von Beirut nach Peking, die vor 60 Jahren stattfand, und konfrontiert auf eine höchst unkorrupte Weise mit dem unheilen Zustand der Welt in diesen Regionen, wie sie in Zeiten der allseits dominierenden CNN-Diktion standardisierter Nachrichtenbilder kaum noch möglich scheinen und einen sogar mehr als nur nüchtern sehen läßt, was wirklich los ist.