Totenwache vor dem Fernseher

Barbara Gowdys Roman über die sechziger Jahre  ■ Von Esther Röhr

„Als Norma klein war, legte sie, um sich Sicherheit zu verschaffen, immer gern ihre Hand auf Lous harten, geraden Rücken. Sandy legte gern ihr Ohr auf einen leeren Eßteller.“ Drei Schwestern haben es nicht gemütlich.

Ihr Heim ist „gefährliches Land“, ihr Vater ein weinerlicher Tyrann, ihre Mutter Alkoholikerin. Die Kanadierin Barbara Gowdy hat sich für das zurückgezogene Leben der Familie Field harte Eckdaten ausgedacht. Schon früh lernen Norma, Sandy und Lou, niemanden zur Tür hereinzulassen als Tante, Onkel und Cousine. Scham und die Last eines angestrengt verborgenen „Geheimnisses“ machen die Mädchen zu dem, was sie sind und was sie auch bleiben werden: eine festgefügte Triade, verschworen gegen die Unbilden der zu bewältigenden Hausarbeit, gegen die Macken des Vaters und die Grausamkeit der Welt.

„Haut ab, Leichenschänder!“ Ein Papier prangt am Eingang zu jenen Räumen, aus denen sich die Mutter der Schwestern nachts zuvor „verflüchtigt“ hat. Keinem Reporter will es gelingen, Auskünfte zu erpressen: warum Mrs. Field auf das Dach stieg und wie sie herunterfiel. Lous Wut findet, wie so oft, markige und richtige Worte. Neugierige sollen sich doch „ins Knie ficken“, statt sie mit Fragen zu bedrängen, die ohnehin keine Antworten, sondern nur Schlagzeilen heischen. Lou, die dank der infamen Einfalt ihres Ex-Freundes Tom gerade eine Abtreibung hinter sich hat, Sandy, die, verzückt schwanger, Dave mit dem Bürstenhaarschnitt heiraten wird, und Norma, die einen honigfarbenen Traum namens Stella ganz und gar vergeblich liebt, halten Totenwache vor dem Fernseher. Denn dort, auf dem Schwarzweißgerät, das von „Heidi“ über „Niagara“ bis „Endstation Sehnsucht“ alles an vorgefertigten Phantasien ausschüttet, was die triste Wirklichkeit vergessen machen soll, steht die Zigarrenkiste mit einem Häuflein Asche darin. Lou gibt ihrem Vater die Schuld am Tod der Mutter.

Vater, Mutter und drei Kinder, ein mysteriöser, ein tragischer und am Ende noch ein wohl notwendiger Todesfall – Barbara Gowdys Roman „Fallende Engel“ ist mehr als ein Drama des Privaten. Mit bizarren Szenarien, mit lapidar pointierten Dialogen und abgründigem Witz zeichnet er ein grelles Historiengemälde. 1959 sind Norma, Lou und Sandy zehn, neun und acht Jahre alt, 1967 übt Norma für den Führerschein. Die blechern tönenden Golden Sixties bestimmen die Melodie, nach der drei Teenager zu tanzen suchen, so gut es eben geht. Gras, das man rauchen, LSD, das man schlucken, und John Lennon, den man, auch wenn der sehr gebildete Tom ihn als „naives Genie“ tituliert, rückhaltlos verehren kann – ob die Russen „die Bombe“ werfen oder nicht, interessiert letztlich nur Mr. Field.

„Disneyland“ ist das Meisterstück unter acht Kapiteln, die präzis ein Jahrzehnt umgreifen. Gemäß den Anweisungen der Broschüre „Pioniere der Selbstverteidigung“ folgt Mr. Field seinem väterlichen und soldatischen Pflichtgefühl. Im atomsicheren Bunker im Garten ist an alles gedacht, die eigenhändig gegossenen Betonwände sind – um der „heiteren Note“ willen – kanariengelb gestrichen, die Lebensmittelvorräte sind bedarfsorientiert ergänzt: Drei Kästen Whisky, Mrs. Fields „Kaffee“, werden für vierzehn Tage reichen. Vermißt werden freilich – trotz lockernder Gymnastik, trotz Rommé- und Scrabble-Turnieren und ungezählter weiterer scharf kontrollierter „Reglements“ – zunächst das TV und dann, unerwartet, ein ansehnlicher Stapel Binden. Doch wer hat ahnen können, daß die zwölfjährige Norma ausgerechnet während der Simulation des Dritten Weltkrieges von „Tante Rosa“ heimgesucht wird? Daß niemand den Ort des Überlebens verlassen darf, nur um Wattetüten für unstillbares Blut zu besorgen, versteht sich für Mr. Field von selbst: „Draußen ist alles radioaktiv.“

Familie Field ist also nicht, wie geplant, nach Disneyland gefahren, sondern hat das an Weihnachtsgeschenken eingesparte Geld in die „Gewißheit“ investiert, daß ihr „nichts passieren kann“. Was den Fields tatsächlich passiert, ist allerdings beachtlich: Lou klaut und Sandy hurt, hinter der dicken „Enorma“ muhen die Jungen her, Dad erobert und verliert ein „Schätzchen“ nach dem anderen und begrapscht obendrein eine der beiden seiner Töchter. Mom schaut auf das Testbild und säuft.

Daß es sich bei „Fallende Engel“ um ein zärtliches Buch handelt, ist das größte aller Wunder, die sich auf den beinahe zweihundertzwanzig Seiten ereignen. Die Strategien unverbrüchlicher Schwesterlichkeit – einmal schroffer, einmal hingebungsvoller – könnte man geradezu nachahmenswert nennen, wären sie nachahmbar. Normas Sanftmut, Lous Frechheit und Sandys schlichtes Faible für das Schöne ergänzen sich wie ineinander verflochtene Codierungen eines Schlüsselsatzes. Der Schlüsselsatz lautet: „Geht es dir gut?“ und ist Mrs. Field gewidmet.

Normas, Lous und Sandys Mutter – „für eine Mutter war sie klein“ – ist der Cherub dieses Buches. Der Cherub kann zu „Tea for Two“ steppen, manchmal backt er einen Apfelkuchen. Mrs. Fields stumme Verzweiflung, ihre fragile Abwesenheit aber zentrieren ihr Leben auf die Sehnsucht, am Rand eines Abgrunds zu stehen. „Daß das Allerschrecklichste passiert“, ist die Hoffnung eines Schemens, der einmal im Jahr – zu Weihnachten – seine schönen Lippen schminkt. Das Klopapier, das die Abdrücke eines „schwebenden Mundes“ trägt, sammelt Sandy in ihrer Bibel, und richtig, Mrs. Field wird sich schließlich in die Lüfte erheben.

Barbara Gowdy, wie Lou 1950 geboren, besitzt ausreichend Stilsicherheit, um die heilige Dreifaltigkeit der Schwestern Fields zu präsentieren, ohne in Kitsch abzugleiten. Ihr Sinn fürs Groteske und ihre offensichtliche Sympathie für ihre Romanfiguren halten einander klug die Waage. So verströmt ihr Buch angenehme Kühle: Nicht das bedauernswert Schadhafte, das Defätistische und Desolate sind Barbara Gowdys Thema, sondern „das Extrem“. Und gibt es Extremeres als fallende Engel?

Barbara Gowdy: „Fallende Engel“. Roman. Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier. Verlag Antje Kunstmann 1992, 218 Seiten, 36DM