piwik no script img

Die neuen Welten im Kopf

Neuauflage des Berlin-Romans „Alexanders neue Welten“ von Fritz Rudolf Fries  ■ Von Stefan Bruns

Die Wiedervereinigung „dieser durchgerißnen Stadt“ hatte Fritz Rudolf Fries schon vor zehn Jahren vorweggenommen: im Bett des kosmopolitischen Machos O.K. Berlinguer, dem es obliegt, neben seiner angetrauten Hälfte (Ost) eine Tussi (West) (mit/ohne „Jeans vom Gesundbrunnen“) zu beglücken. O.K. selbst überwindet „den schutzwall eines schenkels“, steht mannhaft in der Mitte zwischen beiden, wie der Fernsehturm am Alex über den Hälften der Stadt. Diese und andere mehr oder weniger politische Taten Berlinguers – der als Jude mit dänischem Paß und „Opfer des Faschismus“ „in der DDR eine Mitte gefunden hat“, aber (im Wortsinn) weit über sie hinausgeht – kann man nachlesen in Fries' Berlin-Roman „Alexanders neue Welten“. Der Piper- und der Aufbau-Verlag haben Neuausgaben des zuerst 1982 erschienenen, lange vergriffenen Werkes aufgelegt. Fries' bisheriges ×uvre ist damit endlich wieder komplett greifbar.

„Alexanders neue Welten“ sind ein Kosmos, bestehend aus vielen montierten Textteilen. Einer davon ist ein in sich (fast) geschlossener Roman. Hinzu kommen, ineinander verschachtelt, eine amtliche Mitteilung, ein Tonbandtagebuch, ein literaturwissenschaftlicher Vortrag, ein heimlich mitgeschnittenes Telefongespräch, drei Traumerzählungen sowie die „apokryphen Anmerkungen“ des Literaturbeamten Dr. Alexander Retard, eines Freundes von Berlinguer, der dessen Leben zu rekonstruieren versucht, nachdem Berlinguer auf rätselhafte Weise verschwunden ist. Auf dem Flug zu Tagen der DDR-Kultur in Havanna ist er samt Dolmetscher, Staatsdichter und einer Delegation Mannequins in ein unbekanntes afrikanisches Land entführt worden. Retard hat nicht nur – nachdem Berlinguer 1968 wegen kritischer Äußerungen zum Einmarsch in Prag aus der Akademie der Wissenschaften der DDR entlassen wurde – dessen Arbeitsplatz übernommen. Er akzeptiert auch seine Geliebte und identifiziert sich im Laufe der Rekonstruktion von Berlinguers Vita mit dem Verschollenen, bis am Ende der Gesuchte und der Suchende zu einer Doppelgänger-Figur verschmelzen.

Sehr zum Mißfallen seines Arbeitgebers sucht Retard, der „Spätling“, dabei keine „objektiven“ Erkenntnisse, sondern sieht Identifikation und Intuition als Mittel einer „fiktionalen Wissenschaft“ an, die auch keine avancierte französische Texttheorie scheut, lange bevor so etwas in der DDR bekannt sein darf.

Die Romankonstruktion bleibt offen, der Leser wird keines Besseren belehrt. Nur mit Aufwand läßt sich eine Chronologie der Ereignisse herstellen. Am Ende weiß man nicht, wohin es Berlinguer verschlagen hat, obwohl man einen literaturhistorischen Gewaltritt auf Sancho Pansas Esel macht, vom Hohen Atlas bis ins Buenos Aires von Cortázar, durch dichten Nebel und Shakespeares Sturm nach Thule; obwohl Cervantes' Leuchtturmwächter und Tanzmeister Rutilio die Führung zur „Mitte der Welt“ übernimmt, Guzmán de Alfarache, der König der Picaros, zurück in die Sonne der Alhambra leitet. Auch wenn Alfred Döblin den Weg zum Alex weist und man – ohne anzukommen – ins revolutionäre Kuba fliegt, durch chinesische Steinzeiten und Mickels „Eisenzeit“, vorbei an allerlei utopischen (Bedeutungs-)Inseln. Obwohl manch mystische Maske sich entpuppt als eine, die ein gewitzter DDR-Autor des Zensors wegen anlegen mußte.

Denn Fries hatte erfahren, was es heißt, wenn man als Autor noch ein Nobody ist und der Erstling verboten wird. Sein Debüt hatte Aufsehen erregt: In dem sinnlich- überschwenglichen Jazz-Roman „Der Weg nach Oobliadooh“ (1966) hatte Fries schelmisch-frech und mit hintergründiger Ironie sämtliche in der DDR geltenden politischen und ästhetischen Tabus und Gebote übertreten: von Staatssicherheit bis Antifaschismus, von sozialistischem Realismus bis Fortschrittsglaube. „Der Weg nach Oobliadooh“ konnte nur im Westen erscheinen, der Umweg in einen DDR-Verlag dauerte 23 Jahre – und das noch in zensierter Fassung.

Die westliche Literaturkritik hatte in den sechziger Jahren in „Oobliadooh“ Fries' Auflehnung gegen die beengenden Verhältnisse, gegen die ideologischen Fronten als puren Antikommunismus gelesen. Doch Fries lehnte es ab, die Rolle des Dissidenten und enfant terrible auszufüllen. Der Part des zum Verstummen gebrachten Regimeopfers war seine Sache nicht. Fries wollte sich literarisch äußern, notfalls durch die Blume, und wählte die Methode Schlitzohr.

Die Beschäftigung mit der pikaresken Literaturtradition Spaniens spielt da eine Rolle. „Der Schelm ist ein ,Leidender‘“, schreibt Fries, „er setzt sich zur Wehr, so gut er kann, er sammelt Erfahrungen, aber am Ende macht er lieber eine Garküche auf, als daß er den Umsturz der Zeiten oder die Reformation vorbereitete.“ In der Hitze des Gefechts steht der Picaro abseits. Sein Element ist eher die Misere, die auf den Sieg folgt: wenn das Beobachtete reflektiert wird, man sich neu orientiert. In das Frontensystem des Kalten Kriegs wollte Fries sich nicht einreihen lassen.

Der Grenzgänger zwischen der hispanischen und der deutschen Kultur hält immer die Position eines „halben Außenseiters“: nie einer Seite allein zugehörig, politisch nicht eindeutig festlegbar, aber dem Zeitgeist widerstehend, unzeitgemäß und vorneweg.

Die vordergründig angestrebte „Dokumentation“ von Berlinguers Leben wird mangels vorzeigbarer Ergebnisse zwar zum „Dokument einer Niederlage“ des Dr. Retard. Doch findet der gehbehinderte, betuliche, seßhafte Retard, was sein ruheloser Doppelgänger suchte. Denn Retard er-findet: Im Kopf werden die wahren Entdeckungen gemacht, im Kopf sind schon die „neuen Welten“. Vorweggenommen hat Fries nicht nur auf anstößige Art („im doppelten Wortsinn“, wie er sagen würde) die Vereinigung Berlins in einem literarisch übereinandergelagerten Doppeldiskurs von Politik und männlichen Sexualphantasien. Auch dem real existierenden Sozialismus hat er früher als andere den Schwanengesang angestimmt. Als sich dann alle von der DDR lossagten, bekannte er sich zu ihr, insofern sie ihn geprägt, er sie als Stofflieferantin akzeptiert hatte.

Der Roman „Alexanders neue Welten“, zweifellos Fries' bisheriges Chef-d'÷uvre, ist ein Feuerwerk literarischer und politischer, immer neuer, überraschender Verknüpfungen, die nicht nur nichts an Aktualität eingebüßt haben, sondern deren Wirkung sich derzeit erst richtig zu entfalten beginnt. Je ferner der Blick auf die DDR, desto näher rückt sie bei der Lektüre von Fries' Romanen. Seine Texte aus DDR-Zeiten fungieren als Fernrohr, welches die politische Fassade der DDR weder positiv noch negativ abbildet, sondern das in der DDR vorherrschende Lebensgefühl konterkariert und die trübe, heute manchen so behaglich scheinende Realität mit ihren eigenen, unerfüllten Sehnsüchten hintertreibt. Sie sind damit zugleich das beste Mittel gegen jede DDR- Nostalgie. Stefan Bruns

Fritz Rudolf Fries: „Alexanders neue Welten“. Roman. München (Piper) und Berlin (Aufbau) 1992, beide 415 Seiten, 19,80 DM bzw. 39,80 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen