Mit Schokolade kann man schlecht kämpfen

Seit die Königsstadt Jajce von der serbischen Armee erobert wurde, rücken Muslimanen und Kroaten in Bosnien wieder zusammen/ Wenn die alte Stadt Travnik an die Serben fiele, wären 2 Millionen Menschen im bosnischen Herzland eingeschlossen  ■ Von Erich Rathfelder

Auf dem Hauptplatz von Vitez, einer Kleinstadt in Zentralbosnien, stehen schon zu früher Stunde einige Taxis. Der dichte Nebel, der selbst die nahestehenden Häuser verhüllt, ist hier, in der Nähe der Front, von vielen Menschen herbeigesehnt. „Dann können wenigstens die Hubschrauber nicht mehr starten. Und wegen des Nebels fangen die Serben erst um 9Uhr an zu schießen, vielleicht auch, weil sie dann ihren Rausch von gestern ausgeschlafen haben,“ scherzt einer der Fahrer. Deshalb sei er jetzt auch bereit, in die nahegelegene Stadt Travnik zu fahren. Seit drei Wochen wird in Turbe, einem Travnik nachgelagerten Ort, heftig gekämpft. Und selbst Travnik liegt bereits im Bereich der serbischen Artillerie. Das Gebiet, in der noch die bosnische Regierung herrscht, ist seit dem Fall der weiter nördlich gelegenen Stadt Jajce Anfang November bedenklich schmal geworden. Ein Straßenschild zeigt es an: Sarajevo 90 km (also nur noch 70 bis zu den serbischen Linien), Travnik 12 km.

Der alte Lada tastet sich die Landstraße entlang. Früher einmal rollte hier der Verkehr zwischen Sarajevo und Zagreb. Tankstellen und Restaurants, die die Straße säumen, zeugen noch davon. Die meisten der Restaurants stehen jetzt leer, die Farben sind abgeblättert, viele der Fenster sind zu Bruch gegangen.

Langsam hebt sich der Nebel und gibt den Blick auf Travnik frei. Trutzig erhebt sich die zur Zeit des osmanischen Reiches erbaute Burg, deren hohe Wälle auch heute noch Schutz zu bieten scheinen. Die unzähligen weißen Minarette der Moscheen fangen das erste Sonnenlicht über der Altstadt ein, deren Häuser sich an den Burgberg schmiegen. „Schauen Sie sich das genau an, vielleicht wird diesen Blick bald niemand mehr genießen können. Fast überall haben die Tschetniks auch die kunsthistorisch wichtigsten und schönsten Moscheen zerstört, in Foča haben sie Parkplätze daraus gemacht.“ Die Straße führt an der außen mit blauen Ornamenten bemalten Suleiman Moschee vorbei, die zu Beginn des 15. Jahrhunderts gebaut, noch heute von dem prächtigen Glanz der türkischen Kultur auf dem Balkan zeugt. Hier in Travnik hatten sich die osmanischen Großvesire aufgehalten.

In der unteren Neustadt dagegen mischen sich moderne Gebäude mit den seit Ende des letzten Jahrhunderts in Österreich-Ungarn üblichen Verwaltungsbauten und den barockisierten Kirchen. Der Wagen muß halten, Straßenarbeiter beseitigen die Spuren eines Granateinschlags. Steinbrocken liegen herum, über dunkle Flecke ist Sand gestreut. Hier sind am Tag zuvor drei Menschen von einer Granate getötet worden.

Vor einem Schulgebäude bleiben wir stehen. In der Eingangshalle empfängt uns die Leiterin des Flüchtlingslagers, das hier eingerichtet ist. Hunderte von Menschen liegen dicht an dicht in den Klassenzimmern. Es sind Flüchtlinge aus dem 30 km entfernten Jajce, die nach dem Rückzugsbefehl in einem langen Treck unter dem Feuer der serbischen Artillerie hierher gelaufen waren. In den Gesichtern und Augen mancher Frauen ist noch der Horror geschrieben, den sie auf der Flucht erfahren mußten, Kinder und alte Menschen liegen auf Decken und dösen vor sich hin.

Narcisa N. ist Elektronik-Studentin in Sarajevo gewesen. Ihr Institut liegt jetzt in Schutt und Asche. Sie will helfen, wo immer sie kann, sie hat sich für dieses Lager hier entschieden. Denn sie stammt aus Travnik. Ihre Mutter, eine Kroatin, lebt noch, ihr Vater, ein Muslimane, einst Partisan in Titos Armee, ist Anfang April „an Gram gestorben.“ Er habe nicht ertragen können, daß es wieder zum Krieg gekommen ist.

„Schauen Sie sich diese Frauen an, ich habe sie gestern befragt“, flüstert sie und deutet auf eine Gruppe von jüngeren Frauen am anderen Ende des Raums. Narcisa hilft wie hundert andere Freiwillige auch dem „Zentrum zur Erforschung von Kriegsverbrechen“, das in der Nachbarstadt Zenica das Grauen in der serbisch besetzten Zone Bosniens dokumentiert. „Sie sind den Tschetniks in die Hände gefallen.“ Und sie erzählt von den Massakern und den Vergewaltigungen, die sie aufzuschreiben hilft. Wie viele Menschen umgekommen sind, wie viele Frauen vergewaltigt wurden, wisse sie nicht. Im Zentrum spreche man von 150.000 Toten und Hunterttausenden Verletzten. „Doch wer kann das zählen, erst in Jahren werden wir die Wahrheit wissen.“ Diese Frauen hier hätten noch Glück gehabt, denn sie seien am Leben geblieben.

Was die Frauen jetzt bräuchten, wäre eine psychologische Betreuung und die Befreiung von der Angst. „Beides können wir ihnen nicht bieten. Dafür gibt es kein Personal und dann die Granaten jeden Tag.“ Etwas erleichtert hätte manche das Gespräch mit ihr, doch die tägliche Ungewißheit bringe auch die erneut an den Rand des Nervenzusammenbruchs.

Eine Gruppe Kinder wird in einen Eßraum zum Frühstück geführt. Sie halten sich Hand an Hand, sind völlig diszipliniert. Sie spüren, daß ihr Überleben auch davon abhängt, unbedingt gehorsam zu sein. Ein Stück Brot wird serviert, ein Klacks Marmelade darauf und Tee. Ruhig und ohne zu sprechen kauen sie am Brot herum. „Wir haben hier kaum etwas zu essen, wir könnten einiges brauchen“, sagt die Leiterin Venetia Semilia. „Auch Decken fehlen, eigentlich alles.“ Die Stadt mit ihren 20.000 Einwohnern hat über 10.000 Flüchtlinge zu versorgen. Und immer noch kommen Hunderte täglich an. Geschunden, ausgeraubt, vergewaltigt.

Die Verteidigung der Stadt

Auf der Straße angekommen, werden die Besucher freundschaftlich begrüßt. Die Freude, die dem Fremden entgegenschlägt, ist rührend. Gerade die Alten sind es, die den Besuchern, die bald wieder wegfahren werden, die Hände drücken wollen. Es braucht keine Worte, um zu verstehen, worum es geht: Wenn nicht bald geholfen wird, dann sind hier alle dem Tod ausgeliefert. Es ist nur ein stummes Bitten, das in den Blicken liegt. Denn diese Stadt, die am Ausgang eines engen Tales liegt, ist seit dem Fall der Nachbarstadt Jajce zum strategisch wichtigsten Ort geworden. Wenn auch noch Travnik fiele, wäre für die serbische Armee der Weg frei, zum Belagerungsring um Sarajevo durchzustoßen. Das breite Tal des Lasvaflusses, der in der Bosna mündet, wäre durch die bosnischen Streitkräfte nur noch schwerlich zu verteidigen. Dann wären auch die östlichen Gebiete um Tuzla — wo noch über 250.000 Menschen den Angriffen widerstehen — und selbst die Industriestadt Zenica eingekesselt und von der Küste abgeschnitten. In Travnik geht es um die Existenz Restbosniens, wenn es zerstört und erobert würde, wären fast zwei Millionen Menschen dem Terror und den Exzessen der serbischen Soldateska ausgesetzt.

Vor der Kommandantur unterhalb des Burgbergs machen sich die jungen Männer der Stadt bereit, um an die Front in dem Vorort Turbe zu fahren. „Wir werden uns eingraben und keinen Meter preisgeben“, erklärt Emir Tita, ein knabenhafter 19jähriger Verkäufer in einem Schallplattengeschäft. Er liebe Miles Davis und Joe Cocker insbesondere, erzählt er gleich. Und er lacht über die Propaganda aus Belgrad und auch Zagreb, die Muslimanen wären fanatische Moslems und wollten einen islamischen Staat. „Natürlich gibt es bei uns auch Religiöse. Aber die meisten hat die Religion wenig bekümmert.“ Er würde am liebsten einmal nach New Orleans reisen zum Jazzfestival. „Wir sind doch Europäer, bessere jedenfalls als manche Serben, bessere als diese Tschetnikmörder.“ Er ist ernst geworden. „Will man uns im Westen tatsächlich, nur weil wir als Moslems gelten, umbringen lassen? Die Serben haben alle denkbaren Waffen. Sie haben Hubschrauber und Artillerie. Wir haben außer unserer Moral fast nichts.“

Bitter reagieren die Umstehenden, allesamt Zivilisten, die sich in schlecht sitzende, grün-braun gescheckte Uniformen zwingen mußten, auf die Reaktionen aus dem Ausland. „Wir sind doch nur einfache Bürger, die nun Aggressoren gegenüberstehen. Die wollen uns doch alle umbringen, sie wollen die Muslimanen töten.“ Das Embargo, so sagt einer, ist völlig ungerecht. „Uns gibt man keine Waffen, um uns zu verteidigen. Wir brauchen echte Hilfe und keine schönen Worte.“ „Aber die UNO bringt doch wenigstens was zu essen!“ Die Soldaten machen nur eine verächtliche Handbewegung. Die Verbitterung macht sich Luft. „Mit Schokolade können wir uns nicht verteidigen, die UNO-Truppen helfen uns nicht“ ruft ein anderer und wedelt mit seiner Kalaschnikow. „Zwei britische Warrior-Panzer sind gestern nach Turbe an die Front gefahren, um die Lage zu beobachten. Was wollen sie denn noch wissen, um den Kreig zu verstehen, um zu verstehen, wer hier angreift und wer sich verteidigen muß? Wollen sie denn zusehen, wie wir abgeschlachtet werden, um sich dann abends darüber lustig zu machen?“ „Das Waffenembargo ist ungerecht, es trifft uns und nicht die anderen.“ „UNPROFOR, die UNO-Truppen, heißen SERBROFOR, denn die gehen nicht einmal in die serbisch besetzten Gebiete, wo unsere Leute umgebracht werden, sondern kommen nur zu uns.“

Der Lastwagen mit seiner menschlichen Fracht setzt sich in Richtung Front in Bewegung. Dies ist also die bosnische Armee. Es sind keine Profis, es sind die mobilisierten Männer der Stadt, es sind Territorialeinheiten, die diese Front nun halten sollen. Die Szene hier ähnelt denen aus dem spanischen Bürgerkrieg, als 1936, nach dem Putsch Francos und der Armee, schlecht bewaffnete Zivilisten von Barcelona aus nach Aragon aufbrachen. Und noch eine Ähnlichkeit. Auch damals wurde ein Waffenembargo der Westmächte durchgesetzt, während es von Hitler und Mussolini für Franco unterlaufen wurde. Der Verlierer war damals die spanische Republik. Mit ihrer Niederlage begann der II. Weltkrieg. Die kurzsichtige Politik der Demokratien hatte der Aggression des Faschismus nur wenig entgegengesetzt.

„Vielleicht stimmt ihre Analogie, ich kenne die Geschichte des spanischen Krieges kaum. Doch damals kamen den bedrängten Spaniern die Linken der Welt zur Hilfe, auch in Jugoslawien gab es Spanienkämpfer. Dagegen werden die Menschen in Bosnien heute in den Abgrund gedrängt und alle, ob links oder rechts, sehen gleichgültig zu.“ Die dieses Fazit zieht, ist eine 23jährige Kroatin aus Zagreb, die hier als Krankenschwester hilft. Ihre persönliche Konsequenz ist zu bleiben, zumindest solange, wie die kroatischen Einheiten der HVO hier zusammen mit den Territorialeinheiten der bosnischen Armee gegen die Serben kämpfen. Spannungen habe es in Jajce gegeben, erzählt sie, weil die Muslimanen den Nachschub für die Kroaten behindert hätten. Doch sie zuckt nur mit den Achseln, als ihr vorgehalten wird, die Kroaten ließen Waffen für die Muslimanen nur mit Wegzoll durch ihr Gebiet. In Prozor und anderen Orten haben sich die beiden Armeen sogar bekämpft. „Wir wissen aber, wenn Travnik fällt, wird auch die westliche Herzegowina durch die ser-

bische Armee bedroht. Wir müssen also zusammen kämpfen.“

Es ist 9Uhr. Wir verlassen die Stadt. In der Ferne hat das Grollen der Artillerie begonnen, es hört sich an wie ein lang anhaltendes Gewitter. Einige alte Zastava-Lastwagen mit bosnischen Soldaten tuckern uns entgegen. An den Hängen links und rechts der Straße liegen wie böse Omen Friedhöfe, Hunderte weiße pfahlähnliche Steine, Grabmäler der Moslems.

An einer Straßenkreuzung haben sich einige Fahrzeuge ineinander gekeilt, es geht nicht vor und zurück. Zwei britische Panzer sind dabei, moderne Mercedes-Lastwagen der UN-Hilfsorganisation UNHCR und zwei Lastwagen mit Soldaten der bosnischen Armee. Agression bricht auf. „Haut ab hier, wir müssen doch nach Turbe.“ Die Erregung ist groß, die UNO- Fahrzeuge behindern die bosnischen Verteidiger. Schließlich gelingt es, den Stau aufzulösen.

Der UNO-Auftrag ist begrenzt

Die britischen Panzer fahren uns voran nach Vitez zurück. Auf einem Parkplatz sind einige Dutzend Lastwagen der UNPROFOR aufgereiht. Und gleich daneben sind über 30 Warrior-Panzer aufgefahren. Einer der Soldaten, der an dem Vorfall an der Straßenkreuzung beteiligt war, zuckt nur mit den Achseln. Solche Szenen täten ihm persönlich leid. „Unsere Aufgabe ist es aber lediglich, die Hilfstransporte zu sichern, und nicht in die Kämpfe der Kriegsparteien einzugreifen. Wenn wir angegriffen werden, machen wir aber von der Waffe Gebrauch.“ Und er unterstreicht dies mit einer Geste, die seine Aussage glaubhaft macht, handelt es sich doch hier um eine Elitetruppe, das „Thesire-Regiment“, das als Teil der Rheinarmee bislang in der Bundesrepublik stationiert gewesen ist.

„Die Verbreiterung der Bergpiste von der Küstenstadt Split nach hier ist Teil unserer Aufgabe, die Versorgung der Menschen auch im Winter sicherzustellen.“ Bagger und Raupen seien eingesetzt, um die Straße, die vorher nur ein Feldweg war, winterfest zu machen. Wie um seine Worte zu unterstreichen, fahren fünf weiße, mit den UN-Lettern versehene Lastwagen, an uns vorbei. Ein Hilfstransport, die Dorfstraße dröhnt unter dem Lärm der Motoren.

Verwundert sehen die Bewohner dem Treiben zu, das plötzlich ihr Leben verändert hat. Nicht nur der Krieg hat seine Spuren hinterlassen. Auch die Panzer haben buchstäblich ihre Spuren in die Straße eingegraben und lassen die Federn des Lada quietschen. An einer ehemaligen Fernfahrerkneipe stehen einige Leute und versuchen, hinter die Scheiben zu blicken. Seit kurzem ist dort nämlich ein echter, englischer „Club“ eingerichtet worden.

Zwei Welten stoßen aufeinander. Auf der einen die perfekte Kriegsmaschinerie einer britischen Eliteeinheit, die wie selbstverständlich die Stadt nach ihren Bedürfnissen zu gestalten sucht. Auf der anderen Seite ein paar tausend vom Krieg verängstigter Menschen, die gezwungen sind, diesem Treiben zuzusehen. Die Selbstverständichkeit, mit der die UNO-Soldaten das Terrain beherrschen, wirkt befremdlich. Denn die Menschen können sich nicht einmal dann, wenn die Serben kämen, von diesen Soldaten Schutz erhoffen. „Immerhin aber etwas zum Essen. In Tuzla und den östlichen Gebieten freuen sich noch alle, wenn die UNO-Laster kommen. Morgen muß ich aber meine alte Kalaschnikow nehmen und wieder an die Front“, sagt der Taxifahrer beim türkischen Kaffee im Restaurant des einzigen Hotels im Ort.

Zenica – Industriestadt am Tropf

Kaum einige Kilometer von Vitez entfernt, scheint das Leben immer noch einen gewohnten Gang zu nehmen. Auf den Wiesen zupfen Kühe an dem spärlichen Grün, an den Berghängen mühen sich ein paar alte Männer um eine Schafherde. Von Vitez aus schnauft der alte Linienbus langsam die Paßstraße hinauf, durch Laubwälder, deren herbstliche Farben die Düsternis des Krieges für Momente vergessen lassen. Vor den mit roten Ziegeln gedeckten Häusern eines Dörfchens trocknet die Wäsche im Wind, der zu dieser Jahreszeit recht kräftig weht. Die Moschee im Zentrum des Orts, daneben die kleine, katholische Kirche zeigen an, daß hier Muslimanen und Kroaten leben. Und auf einigen der schmalen, von Steinwällen umgebenen Feldern, die hinter den Häusern hervorlugen, pflügen Bauern die spärliche Krume. Vielleicht haben viele Menschen schon resigniert und würden am liebsten vor dem Krieg entfliehen, doch die Szenerie hier deutet auf den Willen, den kommenden, gefährlichen Winter zu überdauern, hierzubleiben und dem Gegner zu widerstehen.

Nach etwas über 30 km sind die Schlote von Zenica zu sehen. Vom früher die Stadt umnebelnden Rauch ist nichts mehr zu bemerken. „Wenigstens haben wir ökologisch einen Fortschritt gemacht“, witzelt Svetozar F., ein dreißigjähriger Serbe, der im Rathaus der Stadt manchmal auch für Presseleute zuständig ist. „Früher beherrschte das Stahlwerk Zenica, 22.000 der rund 145.000 Einwohner waren in ihm beschäftigt.“ Zusammen mit den Zulieferer- und den metallverarbeitenden Betrieben hat der Stahl der Region seit 100 Jahren – gegründet wurde es im Jahr 1892 – den Stempel aufgedrückt. Doch jetzt sind die Hochöfen erloschen, die meisten ArbeiterInnen arbeitslos und 30.000 Flüchtlinge in der Stadt. Auf dem Güterbahnhof stehen noch einige Züge herum, doch auch hier ist Stille eingekehrt, Zenicas Verkehrsadern sind von der Welt abgeschnitten worden. Von hier aus wurde der Stahl nach Sarajewo – auch in das dortige Volkswagenwerk – gebracht. Und das Erz kam in langen Güterzügen vom Bergwerk Omarska, von dem Ort also, der im Sommer dieses Jahres zu einem der berüchtigsten serbischen Konzentrationslager gemacht worden ist. Svetozar F. zuckt mit der Achsel. „Ich bin einer der Serben, die loyal zur bosnischen Regierung stehen, denn ich fühle mich als Bosnier. Die Tschetniks sind auch für mich Verbrecher. Der Krieg ist furchtbar und er bedeutet die Zerstörung auch meiner Zukunft. Je länger der Krieg dauert, desto mehr zerbröckelt aber die bosnische Idee. Wir haben hier alle doch friedlich und gut zusammengelebt.“

Wie lange noch? Gerüchte gehen um und Mißtrauen gegenüber den „anderen“ macht sich breit. In einem Hochhaus mit einem der wenigen offenen Cafes der Stadt hat Hermann – so sein Spitzname – für ein paar Tage einen kleinen Job gefunden. Er ist ein guter Mechaniker. „Glück im Unglück“ sagt er, der ein Muslimane aus Jajce ist und früher einmal Gastarbeiter in Deutschland war. „Viele Serben sind doch eine fünfte Kolonne. Die verraten unsere Stellungen. Und

auch zwischen den Kroaten und Muslimanen stimmt nicht mehr alles. Meine Stadt Jajce ist doch erobert worden, weil der Nachschub zu uns nicht mehr durchkam.“ Er schüttelt den Kopf. „Wir haben dort Seite an Seite mit den Kroaten gegen die Serben gekämpft, und dann schießen die im Hinterland gegeneinander.“ Immer noch ist er erbost. „Das waren Extremisten auf beiden Seiten.“ Sogar kroatische Truppen wären abgezogen worden, die nötigen Verstärkungen kamen niemals an. So konnten die Serben Jajce erobern. Alle, die Alten und „loyale“ Serben, die nach der dramatischen Flucht der muslimanischen und kroatischen Bevölkerung in Jaice geblieben waren, „wurden von den Tschetniks ermordet, ungefähr 500.“ Als einer der letzten Soldaten der bosnischen Armee habe er es selbst vom Berg aus sehen können. Zwei Häuser habe er verloren, seine Familie sei aber schon in Österreich. Er selbst träume davon, nach „Deutschland, seiner zweiten Heimat“, zurückzukehren. Doch erst müsse er kämpfen. In drei Tagen gehe er wieder an die Front. Schweigend nimmt er den Abschiedsgruß entgegen.

„Wir müssen Gerüchten und Halbwahrheiten widerstehen. Denn gerade dies ist das Ziel der Aggressoren. Sie wollen Bosnien zerstören, nicht nur seine Menschen und den Staat, sondern auch die Idee. Alle, die hier leben, sind gleichberechtigte Bürger, ob Muslimanen, Serben und Kroaten, dieses europäische und universale Prinzip verteidigen wir hier und jetzt.“ Besim Spahić, ein Muslimane, ist Bürgermeister der Stadt. „Mein Stellvertreter ist Kroate und auch Serben sind weiter auf führenden Posten der Verwaltung. Wenn wir selbst dieses Prinzip verraten, sind wir völlig verloren.“ In seinem riesigen Büro in einem der modernen Gebäude aus Glas und Stahl, die während der Titozeit gebaut, das ganze ehemalige Jugoslawien überziehen, hängt eine Generalstabskarte, die aufzeigt, wie nahe die Front seiner Stadt schon gerückt ist. Zwei langen Fingern gleich strecken sich die von Bosnien gehaltenen Gebiete nach Osten bis nach Tuzla und Gradačac. „Das von uns kontrollierte Gebiet ist ein verletzbarer Schlauch“. Doch noch mehr Sorgen als die militärische Lage macht ihm die Frage der Versorgung. „Wir wissen nicht mehr, wie wir Lebensmittel heranschaffen können.“ Wenn es die UNHCR, die UNO- Hilfsorganistion oder die anderen Organisationen wie die Caritas nicht gäbe, würden viele jetzt verhungern. Für die deutsche humanitäre Hilfe, die den größten Umfang hat, sind wir sehr dankbar, sagen sie dies ihren Lesern.“ Doch für den Winter würde auch diese Hilfe nicht mehr reichen. „Schon jetzt hungern viele“. Ein gravierendes Problem sei das fehlende Heizmaterial, für unterernährte Menschen könnten schon Erkältungen tödlich sein. Besim Spahić will nicht mit Zahlen jonglieren. „Die Situation ist wirklich dramatisch. Ich weiß nicht, wie viele Menschen diesen Winter überleben werden.“

Im Zentrum von Zenica sind viele Menschen auf der Straße. Flüchtlinge, Frauen, die Kinder an den Händen halten, ein paar alte Männer unter ihnen. Manche sehen in die Auslagen der Geschäfte, wo selbst Winterkleidung noch zu haben ist. Doch die Verkäuferinnen zucken mit der Achsel. „Niemand kauft, kein Geld.“ In den Supermärkten gähnt die Leere, ein paar Packungen Graupen, Salz, ein paar Kilo Mehl. Kein Obst, doch Restbestände von Schnaps und Wein.

Prozor und die Bogumilen

Die Lastwagenfahrer auf dem Betriebsgelände des Stahlwerks sind sehr freundlich. Es sind die Restbestände von Stahl und Eisen, die sie transportieren sollen. Muhadin P., der vor Jahren einmal auf Montage in vielen Ländern der Welt, auch im Nahen Osten war, soll Eisenstangen, die für spanische Reiter an den Straßensperren gebraucht werden, nach Prozor bringen. Nach Vitez biegt eine nicht geteerte Straße westwärts ab. Das ist die sichere Piste, die einzige Verbindung in den langen Schlauch des von der bosnischen Regierung kontrollierten Gebiets, die nicht von den serbischen Streitkräften bedroht werden kann. In dem engen Tal, das ein reißender Fluß gegraben hat, sind Baumaschinen der UNO-Truppen aufgefahren. Die Straße wird verbreitert, Steine und Schutt haben das klare Wasser braun gefärbt. Oftmals müssen wir anhalten und die endlosen Reihen der UNO-Fahrzeuge mit Hilfgütern und Ausrüstung für die UNPROFOR-Truppen passieren lassen. Dann wieder sind es Fahrzeuge der bosnischen Armee. Ein Jeep mit den Buchstaben HOS zeigt uns an, daß auch Kontingente der rechtsradikalen kroatischen „Partei des Rechts“ an der Front sind. „Das sind aber wenige, die spielen keine Rolle,“ sagt Muhadin. Und die Kämpfer aus den islamischen Ländern, von denen in Belgrad und Zagreb so viel die Rede ist? Muhadin zuckt mit den Achseln. „Ein paar gibt es schon, und die werden von unseren Leuten aufgenommen. Doch es sind auch nur wenige und die passen nicht zu uns. Es geht doch nicht um einen Religionskrieg. Die Bonzen haben ihn angezettelt, um sich das Volkseigentum anzueignen.“ Der Selbstverwaltungssozialismus würde heute schlecht gemacht. „Ich war aber immer für Tito. Der hat mit den Tschetniks und Ustaschen Schluß gemacht. Da war Friede in unserem Land.“ Endlich fahren wir in Prozor ein, vorbei an den von Ruß geschwärzten Fensterhöhlen der Hausruinen. Hier also hatten Ende Oktober die kroatischen und bosnischen Truppen gegeneinander gekämpft und damit zum Fall von Jajce beigetragen. „Weißt du, am 29.November 1943 wurde in Jajce Jugoslawien ausgerufen“, erklärt Muhadin, „jetzt ist Jajce von den Tschetniks zerstört. So ist das.“ Am Rathaus von Prozor weht die kroatische Flagge. „Kroatien, das ist von hier bis nach Split alles“, erklärt die Verkäuferin im Kiosk, der unversehrt geblieben ist. Auch in Prozor hat Bosnien offenbar die Schlacht verloren.

Wieder rattert eine Militärkolonne durch die Stadt. „Mensch, das ist ja unser Kommandostab,“ flüstert Muhadin. Aus einem Jeep springt Jasmin Jaganjak, ein drahtiger Offizier, der berühmt geworden ist. „Der war der Verteidiger von Mostar in der kroatischen Truppe, ist aber Muslimane, jetzt soll er die bosnische und die kroatische HVO gegen die Serben koordinieren.“ Jaganjak spricht mit ruhiger und überlegter Stimme. An einem Kaffee nippend gibt er bereitwillig Auskunft. Seit am 9.November ein politischer Kompromiß zwischen dem Kroatenführer Mate Boban und dem bosnischen Präsidenten Izetbegović erzielt wurde, ginge es nur noch darum, das Oberkommando zu vereinheitlichen. Und er glaube an den Kompromiß. „ Wir müssen uns selbst helfen können, wir fordern die sofortige Aufhebung des Waffenembargos. Sehen Sie, nur ein Drittel unsere Leute ist bewaffnet. Um unsere Leute zu schützen, können wir uns auf die UNO-Truppen nicht verlassen.“

Der Troß zieht weiter. Zwei finnische Journalistinnen fahren mit ihrem Geländewagen zurück zur Küste. An der bosnisch-kroatischen Grenze tauchen schemenhaft über einen Meter hohe Grabsteine aus dem Nebel auf. Die Gräber der Bogumilen. Eine auf einem Esel reitende Figur ist eingraviert. Ein Christus. Eine ältere Frau kommt aus einem der nahegelegenen Gehöfte und schaut uns mißtrauisch an. In Foča hätten die Tschetniks solche Gräber gesprengt, sagt sie, wie die Moscheen. „Die Tschetniks wollen alle Spuren von uns tilgen, auch die unserer Vorfahren. Die christlichen Bogumilen wurden im Mittelalter von Katholiken und Orthodoxen bekämpft. Wie jetzt wir, ihre Nachfahren, die Muslimanen.“