Eine Art mentales Aspirin

■ Fragwürdige Geschichtsvergleiche bei Peter Weiss' Die Ermittlungen im Thalia

im Thalia

Was darf gegen eine abendliche Lesung eingewandt werden, die nur deswegen stattfinden konnte, weil (momentan?) das neue Deutschland vom neonazistischen Terror heimgesucht wird? Das Ensemble des Hamburger Thalia-Theaters hatte sich binnen einer Woche darauf verständigt, Die Ermittlungen von Peter Weiss öffentlich vorzulesen - um kenntlich zu machen, hieß es, wie bürokratisch, deutsch, ja kühl es in den zwölf Jahre Nationalsozialismus in Deutschland zuging.

Es handelt sich bei dem Stück um eine szenische Dokumentation der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, die in den sechziger Jahren ebenso drastisch wie ohnmächtig belegten, wie reulos den Tätern in den Konzentrationslagern ihr Tun nach wie vor dünkte. Der deutsch- schwedische Emigrant Peter Weiss schrieb sein Stück, um überhaupt aufzuklären. Ende der sechziger Jahre existierte kaum Literatur zum Thema, geschweige denn eine öffentliche Auseinandersetzung.

Soviel darf festgestellt werden - das Ensemble verzichtete, von wenigen Ausnahmen offenbar wenig kundiger Schauspieler abgesehen, auf jedwedes Pathos, las die Zeugenaussagen ebenso herzenskalt vom Blatt ab wie der Richter (gegeben von Hildegard Schmahl) seine Fragen formulierte. Und doch soll resümiert werden, daß der Vergleich der heutigen Zustände in der Bundesrepublik mit denen des Nationalsozialimus zwar agitatorisch wertvoll, auch ehrenwert, aber substantiell eher belanglos ist. Wahrscheinlich wird selbst das Thalia-Theater nicht behaupten wollen, daß die Angriffe auf Asylbewerberheime mit dem braunen Wirken in den Konzentrationslagern in irgendeiner Form synonym zu setzen sind. Aber immerhin. Die Geste mochte wohl zählen. Wer fühlt sich als Linker in diesem Land derzeit nicht verfolgt, mindestens überfordert, wer also griffe nicht gerne zum (falschen, weil harmlos machenden) Vergleich?

Es führte am Freitagabend zu einer fast sakralen Stimmung unter den schon vorab einverstandenen ZuhörerInnen - nie wieder Faschismus oder so ähnlich waberte als Credo unter dem Fünfziger-Jahre- Lüster im Haus am Gerhart-Hauptmann-Platz. Man lauschte sehr ernsthaft im Parkett, tat gerade so, als hörte man erstmals davon, beispielweise, wie akribisch die Nazis sich um die Wertgegenstände ihrer Mordopfer bekümmerten. Es war, anders gesagt, nett gemeint, sich der heutigen Zustände vergewissern zu wollen, indem man sich des tausendjährigen Reiches erinnert. Gleichwohl war alles falsch, eine freundliche Offerte, gemeinsam an den Zuständen zu leiden. Für die wunden Seelen im Auditorium war es sicher eine Art mentales Aspirin. Mehr darf von Kunst heute kaum erwartet werden. Arne Fohlin