Zeit der Ungewißheit - Krise der Politik

■ Weltpolitik in der Krise: Strategien gegen die alten Mächte können nicht nur politisch sein

Wenn es eine grammatikalische Partikel gibt, die im Sprachgebrauch unserer Zeit bestimmend ist, dann ist es die Partikel post. Post-moderne Zeiten. Post-industrielle Zeiten. Post-sozialistische Zeiten. Post-revolutionäre Zeiten. Post-totalitäre Zeiten. Post-historische Zeiten. Post-fordistische Zeiten – wir könnten fast unendlich viele posts aufzählen. Und die Bedeutung dieser kleinen Partikel ist so groß, daß sie je nach Anwendungsart nichts Geringeres auszudrücken scheint als das Ende einer ganzen Epoche. Aber auf der anderen Seite kennzeichnet sie keinen Anfang. Sie besagt lediglich, daß etwas beendet ist, und dies vielleicht für immer. Was ist es? Dies müssen wir herausfinden.

Ich werde hier der Versuchung widerstehen, eine neue Kategorie einzuführen, die mit post beginnt, das heißt, ich werde nicht versuchen, die Periode zu definieren, die mit ihrem Nichtsein oder ihrer Negatividentität oder dem, was an sein Ende gelangt, zu beginnen scheint, sondern von einer Positividentität ausgehen, das heißt davon, was die neue historische Zeit ist oder zu sein scheint. Vielleicht ruft meine scheinbare Anmaßung, schon zu wissen, wie die neue Zeit zu nennen ist, Aufmerksamkeit hervor, während so viele Geschichtsmeteorologen nicht wissen, wie sie das anstellen sollen. Aber keine Sorge – ich weiß ebensowenig, wie die neue Zeit sein wird. Und das ist die einzige Gewißheit, die ich habe: nichts zu wissen. Und da ich den Eindruck habe, daß alle diejenigen, die sich durch die Einführung einer Post- Kategorie einen Namen gemacht haben, auch nicht wissen, was kommt, wage ich es, einen Namen zur Charakterisierung der neuen historischen Periode vorzuschlagen, und zwar folgenden: die Zeit der Ungewißheit.

Als Politiker Geschichte machen wollten

Die Zeit der Ungewißheit – das ist ganz offensichtlich – kommt in der allgemeinen Krise von als unleugbar angesehenen Gewißheiten zum Ausdruck. Die politische Betätigung in ihren traditionellen Formen wird nach und nach in Frage gestellt. Wir könnten sagen, daß man in vielen Ländern, wenn nicht eine politische Krise, so doch eine Krise der Politik beobachten kann. Diese Krise hat meiner Meinung nach mit dem Wechsel des Schauplatzes der politischen Aktion zu tun. Die Politik und der Politiker waren während der Zeit des Kalten Krieges überidealisiert bis zu einem Punkt, an dem das übernatürliche Dimensionen annahm. Als die Welt nur in zwei Blöcke geteilt war, hatte die Politik einen pathetischen Sinn. Politik machen hieß Geschichte machen. Sogar die einfachsten politischen Resultionen auf provinzieller oder regionaler Ebene schienen mit der Dialektik des Hauptkampfes der Gegensätze verbunden zu sein. Politik zu machen hieß auch, den „Feind“ zu schlagen, und in diesem Sinne war jeder Politiker ein Zivilsoldat eines Krieges, den wir alle erlebten. Die Konfrontation der Blöcke erforderte einen echten Notstand, in dessem Inneren die Diskurse unserer Politiker sowie ihre Mentalität und sicher auch ihre Rhetorik entstanden. Der Politiker der Zeit der Gewißheit mußte ein Politiker sein, der Gewißheit ausstrahlt. Und in diesem ständigen Notstand, in dem wir lebten, forderten die Politiker, inzwischen geistige und tatsächliche Repräsentanten unserer Blöcke, daß wir ihnen bedeutende Quoten unserer Macht übertrügen. Die Demokratie, in der wir noch leben, war gekennzeichnet durch ein Übergewicht der delegierenden gegenüber den partizipativen Funktionen. Das erschien um so notwendiger, als von den Politikern unsere eigene Existenz abzuhängen schien. Jeder Irrtum, jedes außerhalb von Zeit und Raum gesprochene Wort konnte den Finger an den Atomknopf heranbringen oder ihn wegführen.

Die Logik des Obwohl-Aber

Heute ist es hingegen so: Wenn die Entscheidungen der Politiker keinerlei Auswirkungen auf den Planeten haben, beginnen wir über die wahren Ausmaße der Politik nachzudenken und zu beobachten, wie diese Supermänner der Vergangenheit manchmal genauso klein sind wir wir. Trotzdem fordern wir weiter von ihnen endgültige Lösungen, die sie uns nicht mehr geben können, auch wenn sie sie anbieten. Die Krise der Politik zu überwinden, bedeutet in diesem Sinne die Stärkung der partizipativen demokratischen Funktionen, ohne auf die delegierenden zu verzichten.

Die Krise der Politik stellt uns vor einen Kreuzweg: Entweder halten wir an dem Glauben fest, daß die Politiker den Auftrag haben, die Menschheit zu retten und folgen jedem Verrückten mit messianischen Absichten, oder wir beginnen mit der Ausarbeitung neuer Formen der Politikgestaltung auf sozialer Ebene und nicht auf Ebene des Planeten.

Die Logik der dichotomischen Vernunft, die uns in den Kalten Krieg führte und ihn in unserem Bewußtsein verfestigte, kam sehr oft in der Existenz zweier Lager zum Ausdruck, die keine Versöhnung zuließen: links und rechts. Links und rechts regelten vermittels ihrer ausschließlichen Logik die politischen kalten Kriege, die in jeder Nation, an jedem Ort stattfanden. In der Zeit der Ungewißheit verschwindet weder die Linke noch die Rechte, ganz bestimmt nicht. Aber ihre absolute Regelfunktion verschwindet. Die Hauptprobleme, vor denen wir heute stehen – Nationalismus, Neofaschismus, Umweltzerstörung usw. – gehören nicht zwangsläufig nach links oder rechts. Der Golfkrieg hat uns gezeigt, daß die Trennlinie zwischen Links und Rechts in diesem entscheidenden Augenblick nicht mehr gegeben war. In einer Zeit, da die Logik des Obwohl- Aber zum Vorschein kommt, kann die Regulierungsachse Links – Rechts nicht mehr die absolute Repräsentation des Politischen und erst recht nicht des Sozialen in Anspruch nehmen.

Funktionen des Nationalismus

Die Krise des Politischen erscheint just in dem Augenblick, da Europa sich in einem Prozeß des Wiederaufbaus befindet – sowohl geographisch als auch politisch gesehen. Es ist doch kein Zufall, daß der Zusammenbruch des Kommunismus gerade dann stattfand, als ein Teil Europas sich auf dem Wege der Vereinigung befand. Alles wies auf den Eurozentrismus hin. Und alle europäischen Länder wollten europäisch sein. Der Eintritt, wenn nicht in die EG, dann in dieses „europäische Haus“, von dem Gorbatschow träumte, war wegen der Modernisierungsprozesse, in die sie sich einfügen wollten, das erklärte Ziel vieler ökonomisch und ökologisch vor dem Ruin stehender Nationen. Die Realität hat ihnen jedoch gezeigt, daß Europa nicht für alle Europäer gemacht ist; es reicht nicht, Europäer zu sein, um westlich zu sein, und es gibt westliche Länder, die nicht europäisch sind; kurz und gut, die Kategorien Europa und Westen haben nicht viel mit der Geographie zu tun, sondern mit der Hegemonie dessen, der mit Hilfe der Macht und des Geldes im Namen Europas und des Westens sprechen kann. Mehr noch als ein Kontinent ist Europa ein Kräfteverhältnis, ebenso kann man sagen, daß Europa für einige europäische Völker nicht existiert oder nicht existieren wird, es sei denn, sie schaffen günstige Kräfteverhältnisse, die sie in vielen unvorhersehbaren Kämpfen erobern müssen. Eines Tages sprechen wir vielleicht vom Europa der Albanier und der Rumänen, der Bulgaren und der Türken, der Portugiesen und der Maltesen und nicht zuletzt vom Europa der Sinti und Roma. Denn dieses, das moderne Europa, hat nicht einmal das Problem seiner Nomadenvölker gelöst. Und da sie nicht als Mitglieder ihres Kontinents anerkannt werden, bleibt vielen Völkern als letzter Weg nur noch, Mitglieder einer Nation zu sein.

Wir müssen uns bemühen, den Sinn der nationalen Kämpfe zu verstehen, die der Kalte Krieg eingedämmt hat. Denn der Nationalismus an sich hat überhaupt keine Bedeutung. Die Bedeutung des Nationalismus besteht im Prozeß seiner eigenen Herausbildung. Der Nationalismus kann ideologischer Ausdruck eines Invasorenvolkes ebenso sein wie ein Mittel der Verteidigung eines kolonialisierten Volkes (und in Europa gibt es die auch). Der Nationalismus als solcher existiert nicht. Es gibt verschiedene Arten des Nationalismus. Und jede unterscheidet sich von der anderen.

Leben in Widersprüchen

In der Zeit der Ungewißheit wird Europa eine der größten Ungewißheiten sein. Europa befindet sich aus historischer Sicht erst in einem geologischen Prozeß der Herausbildung. Es ist jedenfalls heute das instabilste Gebiet des Planeten. Die Wiederherstellung der nationalen Einheit in Europa scheint einer der schwierigsten Prozesse des historischen Augenblicks zu sein. Erkennen wir doch ein für allemal an: Es mangelt uns an Theorien, die uns helfen, die vielfältigen Beziehungen zu verstehen. Unsere Mentalität ist nur fähig, einfache Beziehungen zu begreifen, die auf der Negation von Widersprüchen basieren – oder, um den üblichen Begriff aus der Zeit der Gewißheit zu gebrauchen: „dialektische Beziehungen“. Eine ganze deutsch- europäische Philosophie hat uns gelehrt, daß die historische Entwicklung das Ergebnis der Überwindung von Widersprüchen ist. Keine Philosophie hat uns bisher gelehrt, im Widerspruch und mit dem Widerspruch zu leben. Daher resultiert unsere ewige Schwierigkeit, demokratisch zu denken.

Europa als solches wurde seit der Kolonialzeit auf der Grundlage der Negation all dessen, was anders ist, aufgebaut. Die Ureinwohner, die Urvölker, die sogenannten niederen Rassen, die exotischen Kulturen, die Ethnien waren das vielfarbige Feld des Nicht- Europäischen. Das Eurpoäische war die Negation der Vielfalt, die ideale Welt ohne Widersprüche und Differenzen. Europa war die Utopie des Eroberers. Aber dieses Europa, heute wissen wir das, existierte nirgends. Nicht einmal in Europa.

Aus dieser Sicht sind nicht die Ausländer das Problem – es sind die Gründe, die die neueste Völkerwanderung auslösen. Aus dieser Sicht erlangt auch das Thema der Ausländer eine neue Dimension: Warum erwähnen die Politiker diese nicht? Weil keine Sofortlösung für das Problem da ist, und die Politiker waren in der Zeit der Gewißheit so erzogen, daß man Lösungen bieten muß, und um Lösungen anzubieten, müssen Probleme genannt werden, und wenn keine Probleme existieren, muß man sie erfinden.

Genau dieser Teufelskreis zwingt uns, die Praxis der Politik neu zu schaffen. Die Politik ist in der Krise, aber jenseits der Politik gibt es nur noch die Katastrophe.

Erinnern wir uns daran, daß die Dissidenten der totalitären Länder für eine „zivile Gesellschaft“ kämpften und sie über vielfältige Kommunikationsstrukturen aufpolitisch sein

Von Fernando Mires

bauten. Aber der Aufbau dieser zivilen Gesellschaft ist niemals zu Ende, weder im Osten noch im Westen, denn da bestehen vielfältige Wechselwirkungen. Das besagt, daß die zivile Gesellschaft sich nicht nur mit der Zeit vervollkommnet, sondern auch Momente der Veränderung durchmacht. Rostock zum Beispiel hat gezeigt, daß es eine große Zahl nicht von Ausländern, sondern von Deutschen gibt, die nicht in die „zivile Gesellschaft“ eingegliedert sind. In diesem Sinne muß ein Unterschied gemacht werden zwischen dem Einwohner eines Landes und dem „Bürger“ (nicht „Bourgeois“). Die erste Voraussetzung erwirbt man durch Zufall, durch Geburt und die Ausstellung eines Passes. Die zweite erwirbt man durch eine entsprechende Praxis. Schlagende und applaudierende Einwohner zu tatsächlichen „Bürgern“ zu machen, ist eines der wichtigsten Gebote der deutschen Demokratie; viel wichtiger als das sogenannte Ausländerproblem.

Das Ende der Dritten Welt

Das Ende des Kalten Krieges stellt auch die „Weltordnung“ in ihrer klassischen Einteilung in Frage. Nicht nur, weil man angesichts der verschwindenden Zweiten Welt nicht weiß, welche Zahl die bisher Dritte Welt erhalten soll (es geht nicht um ein mathematisches Problem), sondern weil außerdem ohne die Existenz der Hauptblöcke die sogenannte Dritte Welt die Logik verliert, die ihr ihre Einheit verlieh. Es war nicht die Dritte Welt an sich, die sie als Einheit erscheinen ließ, sondern ihre Beziehung zur Ersten und Zweiten Welt. Die Dritte Welt war das Gebiet, wo die Hauptwelten um ihre Vorherrschaft streiten. Wenn die Dritte Welt nicht bestanden hätte, wären keine Expansionsmöglichkeiten für die anderen beiden vorhanden gewesen, und es hätte darum keine Blockpolitik und keinen Kalten Krieg gegeben. Die Dritte Welt war die zu okkupierende Welt, das Naturreservoir, wo man Atomversuche und ideologische und technologische Tests durchführte, wo man Entwicklungspläne in die Praxis umsetzte; sie war die Quelle, aus der man „Natur“-Reichtümer barg, die Müllkippe, auf der man Militär- und Industrieabfälle ablud, der revolutionäre Traum der westlichen Linken und nicht zuletzt das Zentrum der Umweltzerstörung.

Nachdem die Zweite Welt verschwunden ist, ist die Dritte im Rahmen einer internationalen Politik, die bipolar ausgerichtet war, nicht mehr sichtbar. Die Dritte Welt war weiter nichts als das semantische Bindeglied zwischen Erster und Zweiter Welt. Da es keine übrigen zwei Welten mehr gibt, gibt es kein mögliches Bindeglied, und auch das Konzept der Dritten Welt tritt in einen Auflösungsprozeß ein. Denn wir stellen heute fest, daß es mehr als einen kleinen Unterschied geben muß zwischen Honduras und Taiwan oder zwischen Brasilien und Nagorny-Karabach.

Heute ist für viele die Dritte Welt nichts weiter als der Ort der ausweglosen Misere, wo die Völker ohne Geschichte leben, um den Hegelschen/Marxschen Begriff zu gebrauchen, oder, wie ein zeitgenössischer Soziologe gesagt hat: das Gebiet der Turbulenzen, das heißt all dessen, was nicht in die herrschenden Kategorien paßt.

Aber in welcher Welt befinden sich Rumänien oder Bulgarien, Albanien oder Montenegro? Und die Emigranten, die Opfer des Kalten Krieges sind und in die „zvilisierten“ Länder strömen, zu welcher Welt gehören die? Die Dritte Welt breitet sich über den ganzen Planeten aus, wo sie neue Unterschiede und Widerspüche schafft und sie pausenlos reproduziert, im Einklang mit einer immer unbestimmteren Geschichte. Kurz – die Dritte Welt ist die Welt.

Neue Themen restaurieren die alte Logik

Neue Themen anzugehen ist wichtig, aber das allein sichert nicht die Formulierung einer neuen Logik. Mehr noch, manchmal habe ich den Eindruck, daß der Übergang zu neuen Themen nur ein Vorwand ist, um die Realität weiter im Einklang mit der früheren Logik zu verstehen. Ist es zum Beispiel nicht auffallend, wie viele neue Formen der Entwicklung in letzter Zeit aufgetaucht sind? Öko-Entwicklung, Ethno- Entwicklung, angepaßte Entwicklung, sich selbst tragende Entwicklung und so weiter. Sind so viele zusammengesetzte Wörter nicht Versuche, die vom biologischen Evolutionismus des 19. Jahrhunderts übernommene Entwicklungsidee zu retten? Denn wenn es Entwicklung gibt, gibt es Dinge, die in einer bestimmten Ordnung und nach einem bestimmten Plan entwickelt werden müssen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Deshalb wird es auch immer die geben, die „wissen“, worauf die Entwicklung gerichtet werden muß, im Gegensatz zu denen, die das nicht wissen und denen man daher eine Orientierung geben muß oder, was das gleiche ist, die man disziplinieren muß entsprechend der Richtlinien, die aus der institutionalisierten Macht der Entwickler, sowohl der „bösen“ als auch der „guten“, erwachsen. Nach so vielen Experimenten mit der Entwicklung ist der Augenblick gekommen, mit dem Konzept selbst abzurechnen und damit mit seinen Subjekten.

Machen wir uns jedoch keine Illusionen. Der einfache Übergang zum Beispiel zum Umweltthema wird uns keine neue Logik und noch weniger einen neuen Diskurs bringen. Die Ökologie ist nichts weiter als ein Ausweg, der Sinn und Logik im Rahmen der Diskurse erlangt, in die sie eingebettet ist. Wir wissen bereits, daß man in Japan nicht ohne Erfolg versucht, das Ökologiethema so in das Denken einzubringen, daß die kapitalistischen Reproduktionsbedingungen gesichert bleiben. Die Ökologie an sich sagt uns nicht allzuviel, wenn sie nicht mit einer äußeren Logik verbunden wird. Weder die Ökologie noch die Natur werden der Platz sein, wo frühere Diskurse gerettet werden. Was die Vernunft nicht hergibt, kann die Ökologie nicht leisten.

Nischen der totalitären Mächte

Die Zeit der Ungewißheit wird nicht, wie viele meinen, zwangsläufig die Zeit der Freiheit sein. Wie oft hat man gesagt, daß diejenigen, die die Nächte Europas mit ihren Übergriffen auf Ausländer verwüsten, Leute sind, die nicht darauf vorbereitet waren, in Freiheit zu leben, und sich daher überfordert fühlen? Hat man nicht versucht, den Krieg im ehemaligen Jugoslawien als Produkt der Völker zu erklären, die nicht wissen, was sie mit der Freiheit anfangen sollen? Nein. Die Freiheit erlangt man nicht automatisch. Die Freiheit ist ebensowenig Nicht-Totalitarismus. Im Gegenteil, die Existenz von totalitären Mächten innerhalb der zentralen Mächte kann eine Verbindung von vielfältigen Formen des Totalitarismus sein. Denn wir wissen seit Foucault, daß die Macht nicht nur in ihrer ausschließlich konzentrierten Form besteht; sie existiert auch in ihrer mikrophysischen Form; eine Atomisierung der Macht, die in bestimmten Abständen deren Zentralisierung ermöglicht. Und während wir von atomisierten Mächten eingeschlossen leben, die aber nicht weniger totalitär sind als die zentralisierten, besteht immer die Gefahr des staatlichen Totalitarismus. Der Staat ist letztendlich auch die erweiterte Reproduktion unserer Identitäten.

Ich würde die Besonderheit der gegenwärtigen politischen Situation so darstellen: Es ist zu einem Bruch der Zentralgewalten gekommen, aber diese sind weit davon entfernt zu verschwinden und nisten sich in ihren ursprünglichen Nischen ein, von denen aus sie auf die Gelegenheit warten, im geeigneten Moment an die Zentralmacht zu gelangen. Ich beziehe mich nicht nur auf die nationale, regionale oder lokale Macht, sondern auch auf noch kleinere Einheiten. In diesem Land ist zum Beispiel der Begriff „Stasi“ Teil einer kollektiven Hysterie geworden, man vergißt im allgemeinen, daß manchmal in einem Industriebetrieb die Arbeiter und Angestellten Spionagesystemen unterworfen sind, die sich durchaus mit den staatlichen messen können. In jeder Institution finden wir Beziehungen der Unterordnung und Macht, die genauso totalitär oder totalitärer sind als es in den totalitären Staaten üblich war. Wird nicht der Chefarzt eines Krankenhauses von den jungen Ärzten und Krankenschwestern mit mehr Ehrfurcht behandelt als der Papst, wen er durch die Gärten des Vatikans spaziert? Die Macht des Geschäftsführers gegenüber der Sekretärin, des Lehrers gegenüber seinen Schülern, des Institutsdirektors gegenüber seinen Forschern – ist die geringer als Honeckers Macht gegenüber „seinem“ Volk?

Nach dem Kalten Krieg, der schließlich und endlich ein Krieg um die Macht war, ist die Macht nicht verschwunden. Sie blieb verstreut auf einem Minenfeld liegen, das wir tagtäglich überqueren. Wie kann man eine politische Strategie entwickeln, um aufgelösten Mächten entgegenzutreten? Das ist das Problem: Eine Strategie dieser Art kann nicht nur politisch sein, denn letzten Endes stellt sie die totalitären Mächte in Frage, die sich zwischen uns und in uns eingenistet haben. Die Zeit der Ungewißheit bedeutet schließlich und endlich, daß wir uns mit uns selbst auseinandersetzen müssen.