Der weltweite Pyrrhussieg des Kapitalismus

„Menschheit – wohin? Möglichkeiten neuer Zivilisationsmodelle“ – eine internationale Konferenz in Berlin/ „Unser Zivilisationsmodell ist gescheitert“, dieser Satz zog sich als roter Faden durch die Konferenz  ■ Von Ute Scheub

Nach Konferenzende traf ich eine Freundin, die gerade von einem Empfang kam. Anläßlich einer Ausstellungseröffnung hätten sich lauter intellektuelle, gebildete, gutsituierte Menschen vor einem kalten Buffet versammelt. Sie selbst habe sich nur einige wenige Minuten von dem Ort des Geschehens abgewandt, und als sie wieder hingesehen habe, sei die gesamte Tafel ratzekahl leer gewesen. Leergefressen von all diesen guterzogenen, reichen, saturierten Menschen, die sich jeden Tag fünf kalte Buffets leisten könnten und alle vier Jahre die Grünen wählen.

Die Welt ist noch nicht verloren, aber sie ist auch nicht gewonnen worden seit dem weltweiten Sieg des Kapitalismus vor drei Jahren. Auf der Konferenz jedenfalls war man sich einig, daß dieser Sieg sich selbst für die Reichen in unseren Breitengraden zu einem Pyrrhussieg umzuwandeln beginnt, ganz zu schweigen von den zwei Dritteln der Weltbevölkerung, die mit der Währung des Hungers und des Blutes den hiesigen Wohlstand bezahlen.

„Unser Zivilisationsmodell ist gescheitert.“ So lautete, programmatisch, der erste Satz auf der vorgestern beendeten Konferenz „Menschheit wohin?“, die das „Bildungswerk für Demokratie und Umweltschutz“, „Buntstift“ und die „Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt ausgerichtet hatten. Die Anregung dazu war aus Lateinamerika gekommen, von der chilenischen Umweltorganisation CODEF. In Arbeitsgruppen und Podiumsdiskussionen suchten VertreterInnen aus Europa, Afrika, Lateinamerika und Asien vier Tage lang nach neuen Konzepten für die globale ökologische und ökonomische Krise. Es waren, notgedrungen, tastende Modelle und manchmal auch gar keine. Doch alle wußten: Wer ein fertiges Alternativmodell in der Tasche zu haben behauptet, lügt sich in dieselbe. Für die Repräsentanten des Südens war es vielleicht eine kleine Genugtuung, daß sie jenseits von Umweltgipfeln und anderen politischen Zwängen zu einem interkontinentalen Gedankenaustausch eingeladen wurden. Und für die Deutschen war es vielleicht wohltuend, den eigenen, derzeit gegen den Rassismus gerichteten Tageskampf in einen neuen Rahmen einordnen und am Ende sagen zu können: Es sieht zwar bitterböse aus, aber noch sind wir nicht völlig verloren.

„Unser Zivilisationsmodell ist gescheitert“ – dieser Satz, der sich wie ein roter Faden durch die Konferenz zog, war unschwer mit der mangelnden Verallgemeinerbarkeit des westlichen Modells zu beweisen. Schließlich verbrauchen die 25 Prozent der Erdbevölkerung, die in den Industrieländern leben, 80 Prozent aller fossilen Brennstoffe und 60 Prozent aller Nahrungsmittel. Wenn über Nacht – gerechterweise! – der westliche Konsumverbrauch in aller Welt eingeführt würde, würde der Globus auch über Nacht ökologisch kollabieren. Für die klügsten VertreterInnen in den westlichen Denkfabriken zeichnet sich längst ab, daß der weltweite Sieg des Kapitalismus seine weltweite Niederlage begründet. Denn wie soll die Erde, so fragen sie wahlweise verzweifelt oder zynisch, den unendlichen Nachholbedarf der Millionen von KonsumentInnen in der heute von Feuerland bis Moskau reichenden Dritten Welt aushalten?

Das Ende der Dichotomie?

Der real existierende Sozialismus machte damit nur vor, wie es einem System ergeht, das zwar ideologisch pompös als Menschheitsbefreier und real existierender Sozialismus daherkam, aber im Grunde nur eine mies und ineffizient organisierte Abart des kapitalistischen Industrialismus war. Der Sozialismus sei eine für andere Weltregionen unbrauchbare europäische Idee gewesen, formulierte auf der Konferenz der chilenische Ex- Marxist Fernando Mires: „Er war nur ein weiterer Versuch zur Kolonialisierung der Welt.“ Auch die von Hegel und Marx entwickelte Dialektik, so könnte man Mires' Thesen (siehe Kulturseite) noch zuspitzen, trägt die Kainsmerkmale der europäisch-christlichen Zivilisation, indem sie die Spaltung zwischen Geist und Materie, Subjekt und Objekt, Gut und Böse voraussetzt. Diese für ihren eigenen Ursprung blinde und in der politischen Realität ins Mechanische abgefälschte Dialektik brachte denn auch die Bipolarität zwischen zwei Supermächten hervor, ohne zu sehen, daß sie nur zwei Seiten eines einzigen abendländischen Zivilisationsentwurfes waren.

Jene Bipolarität der Supermächte, setzte die mexikanische Sozialpsychologin Gloria Careaga den Gedankengang von Fernando Mires fort, habe viel zu lange die Erkenntnis des kulturellen Reichtums auf der Welt und die Akzeptanz der Unterschiede verhindert. Nun aber sei die Zeit der Multipolarität gekommen, in der alle, Frauen und Männer, „Zivilisierte“ und „Unzivilisierte“, zu „Subjekten“ werden könnten. Die Europäer hätten es aus der Aufklärung übernommen, ergänzte der indische Sozialanthropologe J.P. Singh Uberoi, das Selbst, die anderen und die Welt getrennt zu sehen. Das Projekt der Aufklärung sei pervertiert worden „zu einer Ansammlung von Fakten über die nichtmenschliche und menschliche Natur“, anstatt Natur- und Geisteswissenschaften wieder zusammenzubringen. Er sähe das ganz ähnlich, antwortete hier ein Physiker. Hans-Peter Dürr, 20 Jahre lang Schüler des Atomphysikers Werner Heisenberg und nun Vorsitzender des Global Challenge Network, machte eine der heutigen Krisenursachen darin fest, daß „wir immer noch mit einem Bild von der Natur leben, das seit dem ersten Drittel unseres Jahrhunderts nicht mehr gültig ist“. Mit der Entdeckung des Paradoxons, daß das Licht Welle und Teilchen gleichzeitig sei, habe man damals erkannt, daß die Natur gar nicht die ihr angedichtete objekthafte Struktur habe. „Die Bausteine der Materie sind nicht mehr Materie“, so Dürr, „sondern haben eine viel allgemeinere Natur.“ In gewissem Sinne sei „das Geistige das Primäre“ und die Materie „eine Art Schlacke, geronnenes Geistiges“. Im Endeffekt werde damit auch die Unterscheidung zwischen toter und lebendiger Materie zweifelhaft: „Der Holztisch hier ist auch lebendig, aber nicht so hochstrukturiert, daß seine Lebendigkeit zum Ausdruck kommt.“

Wie aber kann eine langweilige Anordnung von Teilchen plötzlich lebendig werden? Wie kommt es, daß sich auf der Erde in Umkehrung des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik ständig Unordnung zu Ordnung wandelt? „Eine ordnende Hand ist hier am Werk“, so der Münchner Professor, „die Sonne nämlich, die der Erde mit ihrer Energie dauernd Ordnungsstrukturen zuführt.“ Eingefangene Ordnungsstrukturen in Form von fossilen Brennstoffen hätten es nun aber der westlichen Zivilisation erlaubt, „die stofflichen Umwandlungsprozesse enorm zu beschleunigen“. Der Natur sei dieses die ganze Atmosphäre erwärmende „Strohfeuer“ schietegal, aber für die Menschheit werde es zu einem Riesenproblem. Die ökologische Krise liege darin begründet, „daß sich der Mensch außerhalb der Natur stellt“ und sie im höchsten Falle zur „Umwelt“ macht. Da er aber selbst zu den natürlichen Wesen gehöre, sei die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur Unsinn und eine überkommene Dichotomie.

Was aber folgt daraus? Soll der einzelne den Weg zurück zur blauen Blume finden, oder muß die Megamaschine als Ganzes angehalten werden? Ironischerweise machte sich just ein Vertreter des armen Südens für den ersten und ein Vertreter des konsumistischen Nordens für den zweiten Weg stark. Der Wandel werde dann eintreten, so der aktive Buddhist Sulak Sivaraksa aus Thailand, „wenn wir uns gegenseitig und auch die Tiere und Pflanzen als Brüder und Schwestern sehen“.

Sich oder das System ändern?

Sulak, Mitbegründer des „Internationalen Netzwerkes engagierter Buddhisten“, der seit einem Jahr das Exil dem Gefängnis vorzieht – er hatte in seiner Heimat die Militärregierung angeklagt, „sich östlich zu geben, aber nur mehr am Geld interessiert zu sein“. Zuallererst, verkündete der Sozialwissenschaftler, müsse man mit sich selbst reden und zu innerem Frieden gelangen, bevor man sich für andere engagieren könne: „Wir tragen alles in uns. Ich bin das 14jährige Mädchen, das in einem Boot aus Vietnam flieht, und der Pirat, der es vergewaltigt.“

Martin Jänicke, als Leiter der Forschungsstelle für Umweltpolitik an der Freien Universität Berlin ein Vertreter des reichen Nordens, sah es genau umgekehrt: Der oder die einzelne könne alleine gar nichts machen, nur durch kollektiven Innovationsdruck könnten technologische Alternativen vorangebracht werden werden. „Mit Radfahren entlasten wir das System nur“, die ökologischen Probleme müßten in den Ballungszentren selbst gelöst werden.

Also sich AUTOnom statt RADikal verhalten, bis der totale Stau in die Verkehrsrevolution umkippt? Johanno Strasser, in Ehren ergrauter Ex-Juso-Vorsitzender, setzte in guter deutscher Tradition auf den Staat als Mittler der Interessen und Verkünder von Verboten. Im Jahre 1975 hätten sich 75 Prozent aller befragten Franzosen für einen fernsehfreien Tag ausgesprochen, seien aber nicht in der Lage gewesen, „den Kasten von selbst auszuschalten“. Beim Auto fahren sei es ähnlich. Er selbst werde auch immer wieder mit 150 Sachen die Autobahn entlangrasen, solange es kein Tempolimit gebe. Das liege auch an der „Aspektisolierung“ in unserer Kultur: „Als Autofahrer verhält sich derselbe Mensch völlig anders denn als Anwohner. Wir sind alle schizophren.“ So schizophren, zitierte der Entwicklungssoziologe Urs Müller-Plantenberg eine Umfrage aus Berlin, daß sich „70 Prozent gegen Tempo 30 aussprachen, aber 80 Prozent dafür, wenn es sich um ihre Straße handelte“.

Gibt es alternative Modelle?

Jakob von Uexküll, Stifter des alternativen Nobelpreises und ehemaliger grüner Europaabgeordneter aus Schweden, könnte angesichts dieser Schizophrenien glatt verzweifeln. „Was nicht überall möglich ist“, formulierte er statt dessen als neues ethisches Leitmotiv, „ist nirgends zu rechtfertigen.“ Wenn Ressourcen und Technologien weltweit gerecht umverteilt würden, so hatte er errechnet, dann würden wir ungefähr auf dem Standard Polens landen. „Nach der Prognose des Worldwatch Institutes haben wir nur noch einige wenige Jahre Zeit, um umzukehren“, so Uexküll. Wobei das doch so einfach wäre, jedenfalls auf dem Papier: „Nur 20 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben würden ausreichen, um bei der Umweltproblematik und in der Dritten Welt eine Wende auszulösen.“ Statt dessen aber zerstöre das industrielle Wachstum die Lebensgrundlagen der Armen und verstärke somit auch Massenmigrationen dort und Rassismus hier.

Noch illusionsloser gab sich der Ökonom Elmar Altvater: „Innerhalb einer Marktwirtschaft, das heißt Geldwirtschaft und Weltwirtschaft, ist keine Alternative denkbar.“ Die Wachstumslogik und der steigende Verbrauch von Ressourcen wohne dem Kapitalismus nun mal inne. Und wer den Osteuropäern heute vorgaukele, daß alle einen Lebensstandard wie im Exportüberschußland Bundesrepublik erreichen könnten, „der sagt ihnen nichts als eine verdammte Lüge“.

Was bleibt dann aber noch? Ismail Abdullah, Planungsminister unter Ägyptens Präsident Sadat, bis er sich mit diesem überwarf und im Gefängnis landete, setzte auf „eine gemeinsame Bewegung im Norden und Süden“, die sich für „mehr Lebensqualität und weniger Konsumismus“ stark macht. Aber eine globale Lösung, so der mexikanische Ökologe Juan José Consejo, könne es nicht geben, „das ist eine globale Dummheit“. Lösungen könnten nur erprobt werden im Aufstieg von der lokalen zur globalen Ebene. Im übrigen sei eine Krise ja keineswegs nur negativ, „Elemente davon können auch zur Rettung führen“.

Die Länder der Dritten Welt, so riet Consejo, sollten sich besser abkoppeln von ausländischen Investitionen, von der Entwicklungshilfe und von der Weltbank. Ein Vorschlag, den der chilenische Wirtschaftswissenschaftler Nicolo Gligo nicht unterstützen mochte: Im Gegensatz zu den Behauptungen des US-Philosophen Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“ habe Lateinamerika eine „Geschichte ohne Ende“, eine Historie der Rohstoffplünderung und Ausbeutung, und der einzige Ausweg sei eine starke Integration in den Weltmarkt. Auch die Berliner Entwicklungsexpertin Claudia von Braunmühl war skeptisch: Viele Länder, zum Beispiel in der Subsahara, erlebten längst „einen Prozeß der Zwangsabkopplung vom Weltmarkt“, und sie sei nicht sicher, ob das für die Menschen „in ramponierten Systemen“ überhaupt eine Chance sein könne.

Vor allem für die Frauen. Daß die Mehrheit der Weltbevölkerung weiblich ist und daß Frauen in allen Wissenschaftsdisziplinen Lösungsansätze formuliert haben, hatte sich in diesem Kongreß und seinen Arbeitsgruppen – bis auf die zur Bevölkerungspolitik – nicht niedergeschlagen. „Der Produktionsprozeß von Marginalisierung, Unterdrückung und kultureller Verarmung wird auch hier fortgesetzt“, bedauerte Claudia von Braunmühl. Buddhist Sulak stimmte zu: Die weibliche Art des Lebens sei viel besser geeignet, „den Materialismus als Personifizierung des Hasses“ und „den Konsumismus als Personifizierung der Gier“ zu überwinden. Auch die Gier am kalten Buffet?