Nebensachen aus Washington
: Das Kulturschöckchen

■ Der Unterschied zwischen deutschem Lächeln und amerikanischem „smiling“

Ob ich eigentlich was an den Zähnen hätte, fragte neulich meine Freundin Clarice. Ich würde so wenig lachen, dabei wäre ich gerade aus dem Urlaub zurück. Gute Güte, sagte ich, drei Wochen Deutschland im November 1992 seien wirklich nicht komisch. „Egal, jetzt bist du wieder hier. Hier wird gelächelt.“ Womit wir beim Phänomen des Kulturschocks wären. „Schock“ ist vielleicht ein zu starkes Wort, aber ein Schöckchen kriege ich jedesmal, wenn ich nach ein paar Tagen oder Wochen Deutschland wieder zurückkomme. Dabei sieht auf den ersten Blick alles gleich aus. Unterschiede in der Bekleidung, Fortbewegung oder Nahrungsaufnahme lassen sich kaum noch feststellen. Das Schöckchen kommt völlig überraschend. Zum Beispiel, wenn man bei Rot über die Ampel geht.

In Deutschland ist das erstens eine Ordnungswidrigkeit und zweitens Verrat am Kollektiv. Das besteht aus den meist schlecht gelaunten Menschen, die hinter mir im Pulk verharren (auch wenn kein Auto zu sehen ist), und denen, die mich auf der anderen Straßenseite mit stechenden Blicken empfangen.

Wenn sich dann noch aus eigentlich sicherer Entfernung ein Auto nähert, dann stehen die Chancen 60 zu 40 gegen mich, daß der Fahrer extra Gas gibt, um mich zu verscheuchen. In den USA überquert der Fußgänger und der Radfahrer die Straße bei Rot, wann immer sich die Gelegenheit bietet. Das ist ganz selbstverständliches antistaatliches Verhalten. Es spart dem Fußgänger Zeit und zwingt die Autofahrer zur Vorsicht. Und es schafft die Gelegenheit zum Blickkontakt. Dabei muß es nicht, aber es kann zu einem bilateralen Lächeln kommen. Dann ist das Kulturschöckchen komplett und ich kann Ihnen versichern: Es ist ein sehr angenehmes Gefühl.

Nun hat die Sache wie immer zwei Seiten. Die andere ist ein manchmal pathologisches smiling, das mit Lächeln oder Lachen nichts zu tun hat. Das fixiert der Verkäufer im Jeansladen ebenso in seinem Gesicht wie die Bedienung in der Kneipe, obwohl ich weiß, daß die bei zwei Dollar Stundenlohn nichts zu lachen hat. Genausowenig wie die Obdachlosen an der Straßenecke, die jedem Passanten überschwenglich einen „wundervollen Tag“ wünschen, egal, ob die ein paar Cents in den abgegriffenen Styroporbecher geworfen haben oder nicht. „Ich lächle, also bin ich“, sagt Clarice dazu. „Wer nicht mehr lächelt, der ist auch nichts mehr.“

Wer es sich leisten kann, läßt sich sein smiling reparieren. Schließlich ist das „perfekte Lächeln“ eine wichtige Investition in die Karriere „und ein Geschenk, das man das ganze Jahr über mit der Welt teilen möchte“. Das sagt natürlich nicht Clarice, sondern mein Washingtoner Zahnarzt. Der grinst ununterbrochen und bietet für neue Kunden gratis eine Personal Cosmetic Smile Evaluation an. Da hat mich Clarice hingeschickt, um meine physiognomischen Voraussetzungen für amerikanisches smiling zu testen.

Zu meiner Enttäuschung dauerte die Untersuchung keine zwei Minuten. Da ich weder Über- oder Unterbiß, noch hervorstehende Schneidezähne habe, ist mein Lächeln laut Diagnose des amerikanischen Fachmanns „absolut in Ordnung“. Danach versuchte er mich immerhin fünf Minuten davon zu überzeugen, daß irgendeiner meiner Backenzähne eine Krone für 600 Dollar benötige. Das habe ich abgelehnt. Erstens fehlt mir das Geld, zweitens sieht beim smiling kein Mensch meine Backenzähne. Andrea Böhm