Von 98 Titeln haben nur 29 die Wende überlebt

■ Während Publizistik-Wissenschaftler die Pressekonzentration ignorieren, haben westdeutsche Großverlage den Osten in regionale Monopole aufgeteilt

Vor zwanzig Jahren noch befaßten sich die Publizistik-Wissenschaftler der Freien Universität in Westberlin Maßstäbe setzend mit der Erforschung der Presse-Konzentrationsforschung. Heute hingegen macht der dort lehrende Professor Ruß-Mohl mit aufwendiger Entstaubung von Emil Dovifats Lebenswerk von sich reden. Es ist dies symptomatisch nicht nur für die Flucht der universitären Freiraumbewohner vor anstoßerregender Analyse, sondern auch für die offenkundige Kapitulation kritischer Wissenschaftler vor der scheinbar unaufhaltsam voranschreitenden Verödung und Verwüstung der Informationskultur.

Hierzu seien ein paar verfassungsrechtliche Aspekte in Erinnerung gerufen: warum gilt die unbeschränkte Gewerbefreiheit für das Medium Zeitung, hingegen nicht für die ebenso privatwirtschaftlich verfaßten Radio- und Fernsehsender? Letztere müssen lizensiert werden duch eigens geschaffene Medienanstalten, die vorrangig auf inhaltliche Vielfalt des Gesamtangebots achten sollen, weil die Zahl der Betreiber von vornherein durch die Grenzen technischer Übermittlung und sehr hohe Kosten begrenzt ist.

1991 wurden im Westen der Republik 1.354 verschiedene Zeitungsausgaben angeboten – dies gilt als Beleg für die besondere Vielfalt und Qualität der deutschen Presselandschaft. Ordnungspolitisches Leitbild ist auch für das Bundesverfassungsgericht der „Bestand einer relativ großen Zahl von selbständigen und nach ihrer Tendenz, politischen Färbung oder weltanschaulichen Grundhaltung miteinander konkurrierenden Presseerzeugnissen“.

Publizistische Vielfalt ist Voraussetzung für jenen oft beschworenen Pluralismus, definiert als gleichberechtigter öffentlicher Austausch gesellschaftlicher Gruppen und als Voraussetzung für die Mehrheitsentscheidung in der repräsentativen Demokratie. Die Herstellung von Öffentlichkeit ist verfassungsrechtlich den Massenmedien zugeschrieben; dazu noch besonders geschützt – Tendenzschutz – sowie durch den defizitären Postzeitungsdienst begünstigt. In der letzten Dekade haben sich die Massenmedien radikal gewandelt. Insbesondere der Zeitschriftenmarkt birst von special interest-Titeln. Im Hörfunk richten sich die Programme vor allem an altersstrukturierte Teilhörerschaften. Gegenwärtig schicken sich neue TV-Privatsender an, die Auffächerung und Parzellierung des Zeitschriftenmarkts nachzuvollziehen. Hinter alledem stehen die Interessen der Wirtschaft, die möglichst geringe „Streuverluste“ bei den Adressaten ihrer Werbung sehen will.

Aber die bestimmte ausdrückliche Wahl spezieller Angebote trennt Menschen von ihren Lebenszusammenhängen – verstärkt kulturelle und gesellschaftliche Segregation anstatt zu integrieren. Zeitungen definieren sich demgegenüber seit je durch die „Universalität“ ihres angebotenen Inhalts. Kein Chefredakteur käme auf die Idee, etwa eine Zeitung für Jugendliche zu starten.

Die Zeitung ist mittlerweile zum wichtigsten Medium und Faktor für Integration geworden. Was freilich fängt der Leser oder die Leserin in einem Ein-Zeitungs- Kreis an, wo ihnen ein fernab produziertes Regionalblatt angeboten wird, das nicht über Vorgänge ihrer engeren Lebenswelt informiert?

Im Westen Deutschlands sind Ein-Zeitungs-Kreise Ergebnis wirtschaftlicher Überlebensfähigkeit. Aber darf die Ökonomie allein Maß der Publizistik sein? In Italien etwa wird Zeitungspapier subventioniert mit der Auflage eines maximalen Zeitungspreises, in Schweden existiert seit 1971 ein umfangreicher Katalog von Subventionen, unter anderem für den Zeitungsvertrieb.

In Ostdeutschland geschah per Treuhand-Dekret folgendes: „Die neuen finanzstarken Eigner der 15 großen (SED-)Bezirkszeitungen... haben den nach den Gesetzen des staatlichen Zentralismus als Monopol aufgebauten und nicht durch freien Wettbewerb entstandenen Markt in unveränderter Struktur übergeben bekommen.“ So die Lokalpresse, die kleine und mittelständische Blätter vertritt.

Das SED-Bezirksblatt Freie Presse, Chemnitz, wurde von der Treuhand an den Verlag der Rheinpfalz aus Ludwigshafen verkauft. Das Unternehmen, hinter dem sich entgegen erstem Augenschein der Hauptgesellschafter des Stuttgarter Zeitungsverlages verbirgt, ging im Bezirk Chemnitz (einem der drei Sachsen-Bezirke) mit dem aberwitzigen Marktanteil von 91,9 Prozent verkaufter Zeitungen ins Rennen.

In gleicher Weise wurde all den anderen Käufern der SED-Blätter der eingeführte Titel mit fester Leser-Blatt-Bindung als Morgengabe überreicht. Zudem deckte der Erwerb auch Inbesitznahme von Produktionsmitteln und Verlagsimmobilien in bester Lage mit geklärten Besitzverhältnissen ab.

Kleine und mittlere Verlage hatten keine Chance. Während sich nach Öffnung der DDR-Grenzen eine beachtliche Vielfalt entwickelte – allein Sommer 1990 entstanden fast 60 neue Zeitungen – setzte mit der Wiedervereinigung ein Zeitungssterben mit gleicher Vehemenz ein: von zunächst 120 neuen Lokal-, Heimat- und Runde-Tisch-Blättern existieren heute noch etwa 50 Titel. Bei den täglich erscheinenden ist das Verhältnis noch krasser: von 98 Titeln haben nur 29 überlebt. In 60 Prozent Ostdeutschland haben wir es mit Ein- Zeitungs-Kreisen zu tun.

Vor diesem düsteren Hintergrund hat der SPD-Medienexperte Peter Glotz heute in Bonn zu einem Gesprächskreis zur Konzentration im Osten eingeladen: „Wir wollen dieses bisher seltsamerweise in der deutschen Öffentlichkeit fast verschwiegene Thema aufgreifen“ – anderthalb Jahre nach Vollzug und konsequenter Diskretion der SPD. Fred Grätz

(Zahlenangaben von der Lokalpresse und Walter J. Schütz)