Im Grunde seines Herzens war Hitler blond Von Mathias Bröckers

Über 40 Jahre währte der Winter des Kalten Kriegs, und groß war das Jammern und Zähneklappern: über das eisige Klima, die tiefgefrorenen Blöcke und den Eisernen Vorhang. Da setzte plötzlich und unerwartet und ohne daß ein politischer Meteorologe irgend etwas vorhergesagt hätte, von Osten her Tauwetter ein. Berlin und die Welt feierten das Ende der Eiszeit. Doch was danach als ganz normaler Kater begann, hat sich zu einer chronischen Migräne ausgewachsen. Berlin und die Welt antworten drei Jahre danach auf die Frage „Wie finden sie die Verhältnisse in Deutschland?“ in aller Regel „zum Kotzen“. Angesichts des braunen Schlamms, der überall hochkommt, sind viele derart entsetzt, daß sie sich Väterchen Frost – samt Mauer – ernsthaft wieder zurückwünschen. Das ist natürlich der reine Irrsinn, denn wer denkt, wenn nach langem Winter endlich Tauwetter einsetzt, ernsthaft an den Frost zurück? Selbst der ekligste Schneematsch, die gefährlichsten Lawinen, das wildeste Hochwasser bringen uns nicht dazu, den Januar mit seinen minus 30 Grad zurückzusehnen. Auch wenn all die Hundescheiße, die so schön unsichtbar war, tiefgefroren und künstlich überzuckert, jetzt ungeniert das Trottoir langläuft. So mächtig das stinken mag – da müssen wir durch. Ich will die Polit-Klimatologie nicht zu weit treiben, aber könnte es sich mit dem vom Tauwetter hochgespülten Nazi-Dreck nicht ähnlich verhalten wie mit der Hundescheiße – daß nämlich auch ihm mit langfristiger Tiefkühlung letztlich nicht beizukommen ist? Daß es also auch sein Gutes hat, wenn er jetzt sichtbar, ruchbar, spürbar wird, weil er sich anders doch nie auflösen kann? Nun kann es nicht darum gehen, die neue deutsche Menschenjagd gutzuheißen – sie ist eine Katastrophe, gegen die dringend Schutzmaßnahmen ergriffen werden müssen. So wie gegen Lawinen, Hochwasser und frei fließende Hundescheiße; und eine Regierung, die durch die beständige heiße Luft ihrer Asyl-Parolen die braune Lawine erst richtig losgetreten hat, ist für derlei Katastrophenschutz so ungeeignet wie der Bock zum Gärtnern. Genauso ungeeignet sind aber auch die Gegenstrategien der künstlichen Vereisung, die die Katastrophe mit strengem Frost wieder rückgängig machen wollen. Sie verwechseln das Frühjahrsunwetter „Bonn“ mit dem Herbststurm „Weimar“ und müßten konsequenterweise den Winterdienst Mielke und Co. mit der Organisation eines 100 Prozent staatssicheren, nazireinen Deutschland betrauen. Erfolg wird garantiert – der Preis ist bekannt. So wie in der Tauwetter-Krise die einzige Chance des Sommers steckt, steckt in der Nazi-Katastrophe die einzige Chance zur Erledigung des Faschismus. Was tun, wenn die herkömmliche „Aufarbeitung“ so offensichtlich versagt hat? Wolfgang Neuss hat die These aufgestellt, daß Hitler so lange wiederkehrt, bis wir aus ihm einen Hit gemacht haben. Und daß es dazugehört, seine guten Seiten („Im Grunde seines Herzens war Hitler blond“) auch herauszustellen. Eine solche Wende des Antifaschismus ist überfällig – erst wenn wir dem Unmenschen sein menschliches Gesicht zurückgegeben haben, wird er uns in Ruhe lassen.