Viel reden – nichts sagen

Am sechsten Verhandlungstag beginnt die Vernehmung Heinz Keßlers zur Sache/ „Tiefes Bedauern“ über die Grenzopfer – aber niemand habe sie zur Republikflucht veranlaßt  ■ Aus Berlin Matthias Geis

Der Dialog wird schärfer. Der Angeklagte Heinz Keßler fragt den Vorsitzenden Richter, warum der denn immer von Personen rede, „die die DDR verlassen wollten“. Warum er nicht formuliere, daß es sich da um Personen gehandelt habe, „die Recht und Ordnung der DDR verletzten“? – Weil ich hier nicht ihren Sprachgebrauch nachvollziehen will, antwortet Bräutigam. „Und ich nicht den Ihren“, kontert Keßler.

Kurz vor Ende des sechsten Verhandlungstages im Honecker- Prozeß fallen Richter und Angeklagter aus ihren Rollen. Der eine will sich nicht länger nur sanft und einfühlsam darum bemühen, seinen ersten aussagewilligen Angeklagten zu weiteren Einlassungen zu bewegen. Und Keßler demonstriert seinen Unwillen, zwei Stunden lang den Kooperationswilligen gespielt zu haben.

Zuvor hatte der ehemalige Verteidigungsminister in einer 30minütigen Erklärung Politik und antifaschistische Tradition der DDR verteidigt. Die DDR sei in der UNO wegen ihres Grenzregimes „zu keiner Zeit Diskussionen ausgesetzt“ gewesen. Alle Maßnahmen zur Sicherung der Grenze seien nicht nur auf Grundlage der DDR-Verfassung, sondern auch im Einklang mit den Bündnisverpflichtungen getroffen worden. Das gelte auch für den Schußwaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze, eine Regelung, die im übrigen mit der Praxis anderer Staaten durchaus vergleichbar sei.

Einleitend bezog sich Keßler auf die Erklärung Honeckers. Weil da bereits „von kompetenter Seite“ die politischen Aspekte des Verfahrens beleuchtet worden seien, wolle er sich in diesem Punkte kurz fassen. Eine Spur deutlicher als Honecker bedauert Keßler die Maueropfer: „Ich beklage jeden, der auf unnatürliche Weise an der Grenze zu Tode gekommen ist. Ich bekunde mein tiefes Bedauern.“ Doch mit seinen weiteren Charakterisierungen der Maueropfer machte er sein Eingangsbedauern dann zur Floskel. Die „Grenzverletzer“ seien schließlich „von niemandem veranlaßt worden“, sich in „das sichtbar gekennzeichnete Grenzsperrgebiet zu begeben“ und sich so „in selbst heraufbeschworene Lebensgefahr zu bringen“.

Im Nationalen Verteidigungsrat habe er „mitberaten und -beschlossen, was für den Schutz der DDR notwendig war“, beschreibt Keßler seine Funktion im höchsten verteidigungspolitischen Gremium der DDR. Befragt nach dem Einfluß des SED-Politbüros auf die Beschlußfassung des NVR, antwortet Keßler: „Das ist überall so, daß der Mensch aus der Sphäre, aus der er kommt, Erfahrungen und Erkenntnisse mitbringt und versucht, das in den Gremien einzubringen, in denen er tätig wird.“ Hier zeigt sich – für einen Angeklagten legitim – die Substanz der von Keßler mehrmals beschworenen Bereitschaft, nach seinen Kräften zur Aufarbeitung beizutragen. Er bleibt wolkig und dort, wo es spannend werden könnte, im wortreich-nichtssagenden Jargon realsozialistischer Politgrößen.

Das wiederum macht Bräutigam nervös. Hat er den Angeklagten bis dato weit ausschweifen lassen, will er es in Sachen NVR genauer wissen. Schließlich basiert die Anklage allein auf den Protokollen und Beschlüssen dieses Gremiums. Wie sind Beschlüsse gefaßt worden? Wie hat der Vorsitzende die Sitzung geleitet? – „Der Vorsitzende hat die Sitzung geleitet, so ähnlich wie Sie das hier machen“, verneigt sich der Angeklagte vor seinem Richter. Der bedankt sich mit einer Grimasse für das zweifelhafte Kompliment. „Wie wurde der Schußwaffengebrauch an der Grenze diskutiert?“– „Nach meiner Kenntnis überhaupt nicht“, zieht sich Keßler zurück. „Soll das heißen, daß auch nicht zur Sprache kam, daß Menschen an der Grenze erschossen wurden?“ Keßler verfällt wieder in den Jargon: Da wurde „Bericht über die Lage an der Grenze gegeben“ und diskutiert, „was in der Folgezeit zweckmäßiger gestaltet werden muß“.

Dann erlöst der Gesundheitszustand des Hauptangeklagten Heinz Keßler aus der Vernehmung.