Lücken und Listen

Zwei neue Bücher über Geschichte und Gedächtnis  ■ Von Thomas Fechner-Smarsly

Gedächtnis und Erinnerung als kollektive Phänomene der Kultur erleben seit ungefähr zehn Jahren eine erstaunliche Konjunktur. Eine Liste mit den Veröffentlichungen der letzten Zeit zum Thema füllte mühelos mehrere Seiten. Jan Assmann gibt drei Gründe dafür an: eine kulturelle Revolution durch die elektronischen Medien, ihre Fähigkeit, ungeheure Mengen von Informationen in einem künstlichen Gedächtnis zu speichern; eine Haltung der „Nach-Kultur“ (George Steiner) gegenüber unserer eigenen Tradition; und schließlich, daß eine Generation von Zeitzeugen der schwersten Verbrechen und Katastrophen der Menschheitsgeschichte nun auszusterben beginnt: „40 Jahre markieren eine Epochenschwelle in der kollektiven Erinnerung: wenn die lebendige Erinnerung vom Untergang bedroht und die Formen kultureller Erinnerung zum Problem werden.“

Zensur als institutionalisierte Form des Vergessens ist Assmanns Thema. Denn er hält Vergeßlichkeit für die eigentliche anthropologische Konstante. Erklärungsbedürftig seien hingegen die Erinnerung und unser Interesse an der Vergangenheit. Welche grundlegenden Ereignisse erinnern wir, als Kollektiv, Nation, Gemeinschaft; vor allem aber: Wer organisiert diese kollektive Erinnerung und auf welche Weise? Kurz gesagt: Es geht ums „kulturelle Gedächtnis“, den Kanon und das identitätsstiftende Fundament jeder Kultur.

Die Fragestellung ist exemplarisch, die Analyse bestechend, wenn auch in mancher Hinsicht nicht neu: Jede Kultur bildet ihre Identität durch ihren jeweiligen Vergangenheitsbezug aus. In schriftlosen Kulturen geschieht die Vergegenwärtigung dieser Vergangenheit durch Riten, also durch Wiederholung. In Schriftkulturen hingegen durch Texte und ihre Auslegung. Zwischen beiden gibt es eine Art Wasserscheide. Karl Jaspers hatte für den Übergang von der Phase der „ritengestützten Repetition zur textgestützten Interpretation“ (Assmann) den Begriff der „Achsenzeit“ geprägt, allerdings ohne die zentrale Rolle der Schrift zu erkennen. Aber – und dies ist Assmanns entscheidendes Argument – nicht die bloße Verschriftlichung mündlicher Überlieferung (etwa von Gründungsmythen, heiligen Texten, heroischen Epen) führt zum qualitativen Wandel, sondern vielmehr die ungeahnten Folgen einer technologischen Revolution. Kurz zusammengefaßt: Auf die Stillegung eines oft Jahrhunderte alten mündlichen Traditionsstroms in der Schrift (bestes und bekanntestes Beispiel: die Bibel) folgt dessen Kanonisierung. Das heißt, es gibt irrelevante oder sogar „falsche“ Texte (Apokryphen). Ihre Auslegung betreibt eine intellektuelle Kaste, zu deren Aufgaben es gehört, den Kanon zu erstellen, zu hüten und zu korrigieren. In der jüdischen Kultur geschieht dies durch den Rabbi, in der hellenistischen durch den Philologos, in der indischen durch den Brahmanen, in der islamischen durch den Mullah. Erst mit der Möglichkeit wortgetreuer Textreproduktion wird auch die Abweichung möglich, die Variation und konsequenterweise die Innovation. Erst dadurch, so Assmann, entwickle Literatur sich „zum Medium einer systematischen Ideenevolution und Wissensrevolution“. Im Gegensatz zur mündlichen Überlieferung kann sich der Schreiber oder Interpret dem Text gegenüber kritisch verhalten.

Das bedeutet aber zugleich, daß Kanonbildung und kritisches Potential zwei Seiten derselben Medaille sind. Historische Überlieferung berührt unmittelbar Machtinteressen. Diese „Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung“ (Assmann) ist zwar eng, kann sich aber durchaus als brüchig erweisen. Dann nämlich, wenn unter den Bedingungen sozialer Unterdrückung die Erinnerung zu einer Form des Widerstandes wird, etwa im Beharren auf der Tradition gegenüber technischen oder sozialen Neuerungen.

Ganz Althistoriker, belegt Assmann diesen Wandel am Beispiel von drei früheren Hochkulturen: während im ägyptischen Staat noch die Riten vorherrschten, die Schrift nur als repräsentatives Element (in den Monumenten) auftaucht, zeigt sie in der israelitischen Kultur zum ersten Mal ihre kanonisierende Kraft. Das Zentrum des Kultes bilden Lesungen und Auslegung. In Griechenland schließlich nimmt in den Texten die (Wissens-)Evolution ihren Ausgang.

Am Ende der Lektüre wissen die LeserInnen, was sie heimlich ja immer schon ahnten: Wir sind nichts – nichts ohne Text. Das tut freilich dem Buch und seinem Anliegen keinen Abbruch. Nur ist leider die Verwandlung der Gedanken in Schriftlichkeit recht sperrig geraten und verlangt dem Leser einiges ab. Denn Assmann, sichtlich bemüht, alles auf den Begriff zu bringen, formuliert sehr abstrakt. So quält man sich ein wenig durch diese 160 Seiten der theoretischen Grundlegung, ehe man zur Anwendung nach Vorschrift gelangt.

Dagegen gestaltet sich die Lektüre des Buches „Geschichte und Gedächtnis“ von Jacques Le Goff über weite Strecken recht locker. Le Goff gehört zur dritten Generation der sogenannten „nouvelle histoire“ in Frankreich, hierzulande besser, wenngleich etwas irreführend als „Mentalitätsgeschichte“ bekannt.

„Geschichte und Gedächtnis“ erschien bereits 1977. Unter einem mehr oder weniger treffsicheren Titel zielen vier Artikel aufs große Ganze: die Krise der Geschichte, die die Krise des Fortschritts ist, und die Auswege.

Als Verfechter einer Sozialgeschichte sieht Le Goff in einigen neuen die alten, sprich: reaktionären Tendenzen am Werk. Und gegen diese tritt er an: gegen die Rückkehr zu einer politischen Geschichte großer Männer und Frauen, die das Ereignis hochleben läßt und in ihrem literarischen Fetisch, der Biographie, abfeiert. Geschichte als Erzählung ist Le Goff suspekt.

In einem instruktiven Vorwort für die italienische Ausgabe (das in die deutsche Ausgabe übernommen wurde) faßt er die wesentlichen Punkte zusammen, auf die es ihm im Hinblick auf ein gewandeltes Bewußtsein von Historie ankommt. Er plädiert für eine Geschichte unterschiedlicher Zeitphasen, die nicht durch Periodisierung und Epochenbildung das Ereignis bevorzugt und den Verschnitt als historischen Anachronismus einstampft. Er sucht nach Kontinuitäten, und er fragt, wie lange Gegenwart eigentlich dauert. Eine nur zu berechtigte Frage: in Frankreich beginnt die Zeitgeschichte 1789. Wo beginnt sie in Deutschland? 1945? 1949? 1989 gar? Was heißt das? Und vor allem – mit Jan Assmann gefragt: Welche Kontinuitäten werden durch solche „Kanonisierung“ ausgegrenzt?

Berührungspunkte mit Jan Assmann ergeben sich bei Le Goff vor allem da, wo von der Bedeutung schriftlicher Erinnerung die Rede ist. Über die innovative Technik hinaus verändert sie die Psyche durch neue intellektuelle Fähigkeiten. So entstanden etwa mit der Etablierung der Königsmacht zugleich Listen von Handlungen, die in einer bestimmten Abfolge ausgeführt werden mußten. Diese Listen, nach denen auch gelernt wurde, ermöglichten zum ersten Mal eine Hierarchisierung der Prozeduren, aber auch des Lernstoffs.

Im Gegensatz zu Assmann bleibt Le Goff einem sozialhistorisch recycelten Positivismus verhaftet: Schriftliche Quellen haben allenfalls den Charakter von Überresten, eine kollektive Erinnerung „an sich“ gibt es nicht. Sie existiert bloß in ihrer sozialen Dimension. Auch wenn beide hier wiederum Halbwachs verpflichtet sind, so unterscheidet sich Assmanns „kulturelles Gedächtnis“ als ein den individuellen Gedächtnissen „Äußerliches“ grundlegend von Le Goffs Zugriff.

Spannender wird es dort, wo Le Goff über die Geschichte der Geschichte, ihre Historizität räsonniert. Kein glänzender Theoretiker, aber einer, der es vorzüglich versteht, die großen Linien zu ziehen und dabei sein Publikum zu unterhalten.

Le Goffs Buch bewegt sich dafür häufig im Grenzbereich zwischen trivialer Erkenntnis, unterhaltsamer Anekdote und plötzlich gar nicht mehr so banalem Problem. Erinnerung und Gedächtnis (das französische Wort „memoire“ beinhaltet beides) geben ihm das Stichwort und den Anstoß für ein neues Projekt der Kulturwissenschaften: eine „historische Anthropologie“ (Le Goff). Hier macht er gemeinsame Sache mit Jan Assmann: „Alles spricht dafür, daß sich um den Begriff der Erinnerung ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften aufbaut.“ Im Zeichen der Gnade später Geburt kann man das nur hoffen. Ansonsten bleibt nur Assmanns „Vergessen“.

Jan Assmann: „Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen“. C.H. Beck Verlag, 1992, 344 Seiten, 68 DM.

Jacques Le Goff: „Geschichte und Gedächtnis“. Übersetzt von Elisabeth Hartfelder. Campus Verlag, 1992, 298 Seiten, 58 DM.