Neu im Kino: Gestohlene Kinder

■ Die Reise ins Unbehagen

Neu im Kino: Gestohlene Kinder

Die Reise ins Unbehagen

Sind so kleine Würstchen, die Alten, halten sich aber verflucht gut. Richtig alt sehen in diesem Film nur die Kinder aus: Rosetta, elf, von ihrer Mutter einem Freund der Familie verpachtet, und Luciano, der kleine Bruder, der seit hundert Jahren die Schnauze gestrichen voll hat. Dann haben wir da noch den Carabiniere Antonio, etwas schwer von Bau und zumal von Begriff, welchem aufgetragen ist, die beiden schlußendlich ins Heim zu verbringen. Mehr haben wir nicht; aber aus diesem bißchen macht uns der Regisseur Gianni Amelio einen unbegreiflich schönen Film: Gestohlene Kinder.

Das Heim nämlich lehnt die Kleinen ab, aus Igitt vor dieser Kinderprostitution, nicht wahr, und der Carabiniere muß also weiter mit ihnen, als wär's nicht schon weit über Tarif gewesen, daß er ein bißchen netter gewesen war als nötig, und es beginnt eine Reise ins allertiefste Unbehagen.

Wir erleben sie mit den überaus verdutzten Augen des Carabiniere Antonio. Wann hätte man auch je solche Kinder gesehen! Rosetta rotzt so gekonnt auf's Leben, als würde sie restlos Bescheid wissen, über die Männer schon gar, und will vielleicht bloß nicht noch mehr rauskriegen müssen. Der Knirps Luciano dagegen hat eh schon die müdesten Mandeläugelchen der Filmgeschichte und nicht mal mehr zum Atmen die rechte Lust.

Unterwegs kriegt er einen seiner Asthmaanfälle, und sogleich ist sie da, die erste große Angst, die dieser Film wie nebenbei aufscheucht: Daß die Kinder sich rächen könnten, indem sie einfach kaputtgehen. „Atme weiter!“ schreit der Carabiniere, Luciano atmet; „na also“.

Aber von Heim ist keine Rede mehr, Antonio ist schon erweicht und bleibt aus Gründen, die sich finden, mit den beiden auf Achse und muß geradewegs verloren gehen, der dumme gute Hirt der Ordnung; die Kinder sind viel zu alt, sie wissen zu viel, als daß man sie mit Brutpflegehandlungen bannen könnte, und in jedem Blick, der zwischen Antonio und dem Kind Rosetta hin und her geht, ist bald insgeheim mehr von Ekel und aufgewühlter Scheu, von Macht und Sexualität die Rede, als man sich träumen lassen möchte.

Dies ist die zweite große Angst, quasi ein Dementi des Rattenfängermythos: Die Kinder tun ihren Dienst als Kleinchen nur noch, solang sie dahin sind. Ihre Rückkehr, wenn sie einem geschieht, ist das Drama: Wie der große Antonio mit dem kleinen Luciano, der alles mitkriegt, zu kumpeln anfängt und ihm Carabinieriwitze erzählt, um wieder ins Lot zu kommen, das sind die Anfänge immer neuer Geschichten, in denen Kinder, so möchte man meinen, doch gar nicht vorkommen.

In solche Unerforschlichkeiten führt uns der Film, der in Cannes den Spezialpreis der Jury gewonnen hat, mit unbekannten Schauspielern, mit nichts drumrum, ja mit Mitteln von franziskanischer Armut: Genauer und behutsamer kann aber eine Geschichte kaum erzählt werden; und nie rückt die Kamera den Kindern auf die übliche tätschelnde Art zu Leibe. Sie dürfen uns gestohlen bleiben. schak

Im Cinema um 20.45 Uhr