Essay-Film: ein alter Knochen?

■ Ein neuer Titel zum essayistischen Film aus Österreich

Das Zeitalter ideologiekritischer Frustration ahndet Theorieverdacht gerne mit dem Verdikt von der „Kopflastigkeit“ und fühlt lieber, als besser zu sehen und zu hören. Ist es nicht der Kopf, mit dem ein Film zuerst zusammenstößt?

Deutsche Verlage haben der Filmtheorie so ziemlich den Garaus gemacht, weil niemand sie kauft und weil niemand sie braucht. Das Verhältnis ist ökonomisch so eindeutig wie filmwissenschaftlich schief: Kaum jemand nimmt noch zur Kenntnis und lehrt, was der Standard internationaler Diskussion ist. Wo die Geschichte des Films zur Raritätenkammer entschärft wurde und entlang der Jubiläen abgefeiert wird, ist das Mittelmaß im Kino bereits die Norm.

Das ist in Österreich zunächst einmal nicht anders. Aber die Bemühungen um eine Kultur, die seit fast zehn Jahren vor allem von der Wiener „Gesellschaft für Filmtheorie“ ausgehen, sind zu spüren – nicht zuletzt auf den verschiedenen Filmfestivals. Auch die Grazer Zeitschrift Blimp, in Salzburg die Gruppe „SIGMA“ (Salzburger Gesellschaft für Semiologie). Alle drei Institutionen haben – zum Teil mit staatlicher Unterstützung – sich sehr um ein minoritäres Kino gekümmert. Man weiß, was in den USA, Frankreich und anderswo gezeigt und gedacht wird. Das eigene Kino liegt noch im argen, aber man schaut eben hinaus.

Und man spricht miteinander. Das dokumentieren diese Anthologie, die von einem internationalen Symposion ihren Ausgang nahm (zwei Gespräche der Veranstaltung sind im Buch wiedergegeben) wie auch ihre Vorgängerin im Sonderzahl Verlag („Sprung im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit“, Wien 1990), die Publikationen der „Gesellschaft für Filmtheorie“ und verschiedene Verlagsgründungen. Solche Anthologien produziert wissenschaftliche Betriebsamkeit am laufenden Band, und manchmal mag man wegen der geisteswissenschaftlichen Verfallszeiten gar nicht mehr hineinschauen. Oft ist der Ramschtisch der Buchhandlungen die baldige Endstation. Der „Essay“ zumal ist der runtergekommene Hund des Feuilletons und der „Essay-Film“ dessen alter Knochen.

Daran wird diese Publikation auch nichts mehr ändern. Der Essay wurde schon zum Synonym für das Unverständliche und Schlechtverdauliche, und auch für Unvermögen und Schlamperei mußte er herhalten. In dem Buch sollten Zweifel darüber aufkommen, ob der versprochene Gegenstand überhaupt vorhanden ist. Frieda Grafe gelang dies deutlicher als den anderen Autorinnen und Autoren. Zumindest eines steht für alle fest: Es gibt nicht nur Erzählkino. Doch hier schon scheiden sich die Geister.

Und man sieht: Die Phänomene fallen nicht wie Schuppen vor die Augen des gesunden Menschenverstandes, sondern erscheinen nur durch die Wahl der theoretischen Optik. Ohne Theorie kein Gegenstand. Nicht zufällig gehen die Wahlwiener des Bandes, Christa Blümlinger und Karl Sierek, am selbstverständlichsten – und überzeugendsten – mit fremdsprachiger Theorie um. Offensichtlich ist die nachhaltige Wirkung vor allem von Gilles Deleuze in Österreich, während in Deutschland dessen beide Bücher über das Kino in das durch Unverständnis geschaufelte Grab der Nichtbeachtung fielen. Christa Blümlingers einleitender Text versucht ein gedankliches Terrain auszumessen und Karl Siereks offener Katalog der „tönenden Seite des filmischen Versuchs“ einen Nicht-Ort des Kinos. Der Essay-Film hat eine besondere Affinität zur Theorie durch „Veränderungen, die gleichzeitig Bild und Sprache betreffen und auch materiell in Bezug zueinander gedacht werden müssen“ (Blümlinger), durch die „Antinomie von Begriff und Bild“ (Sierek). Dieser kinematographische Konflikt zwischen Sprache/Ton und Bild/Sichtbarem ist wahrscheinlich der theoretisch weitreichendste des Themas, weil an diesem Nicht- Ort Film und Denken sich zu begegnen scheinen.

Eine verlegerische Glückstat geradezu ist die Erstübersetzung von Texten Raymond Bellours. Bellour zählt in Frankreich zu den bedeutendsten Filmwissenschaftlern, ist Herausgeber von französischen und amerikanischen Filmzeitschriften und Autor eines recht einflußreichen Buches über Film, Fotografie und Video namens „L'Entre-Images“ (Paris 1990). An Bellours Beitrag wird nicht zuletzt ein Zusammenhang zwischen ambitionierter Filmtheorie und dem Kino selbst deutlich; denn (fast) alle Filme, auf die Bellour sich bezieht, kommen aus Frankreich; unter anderem Filme von Godard, Eustache und Chris Marker, die hierzulande (fast) nie zu sehen sind. Anscheinend gibt es doch so etwas wie einen – verschwiegenen – Binnenraum von Ästhetik und Theorie.

Der Band enthält neben weiteren Beiträgen von Birgit Kämper, Martin Schaub, Harun Farocki, Thomas Tode, Bill Krohn und Hartmut Bitomsky einen Materialanhang, nämlich wichtige Texte zum Essay-Film von Bazin (Erstübersetzung), Richter, Astruc und Kluge/Reitz/Reinke. Lars Henrik Gass

„Schreiben Bilder Sprechen. Texte zum essayistischen Film“. Herausgegeben von Christa Blümlinger und Constantin Wulff. Sonderzahl, Wien 1992, 232 Seiten. Engl. Broschur. ca. 30 DM.