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Erinnerungssplitter

■ Eine fiktive Dokumentation jüdisch-deutscher Familiengeschichte

Ende der sechziger Jahre treffen sich in einer deutschen Kleinstadt fünf Menschen: eine Mutter und ihre vier Kinder. Drei von ihnen sind aus den USA und Israel angereist. Ein Familientreffen ist es nicht, denn als Familie haben sie nie zusammengelebt.

Als die Halbjüdin Lotte-Miriam dreißig Jahre zuvor von ihrem Mann verlassen wurde, gelang es ihr während der Nazizeit gerade mal, sich durchzuschlagen. Ingrid und Michael ließ sie bei einer ehemaligen Nachbarin zurück. Zweimal kam sie bis 1945 zu Besuch und lieferte jeweils ein weiteres Kind ab: Helene und Emanuel. 1948 wurden die Söhne mit der Jugendaliya nach Palästina geschickt. Emanuel war zu dem Zeitpunkt sieben Jahre alt. Jetzt, da er seine Mutter und die Schwestern wiedersieht, beginnt er, nach der Geschichte dieser Zufallsgesellschaft zu fragen. Die Geschwister aber sind nur widerwillig dazu bereit, sich mit ihrer Kindheit zu befassen. Und die Mutter verachtet Emanuel für seine „Sucht, überall herumzuschnüffeln“.

Der israelische Roman „Gras und Sand“ ist in diesem Herbst, 14 Jahre nach der Originalausgabe, in der Übersetzung von Judith Brüll- Assan und Ruth Achlama auf Deutsch erschienen. Der Autor, David Schütz, wurde als Kind selbst nach Palästina geschickt, autobiographische Züge im literarischen Text liegen daher nahe. Im Zentrum des Buches steht die psychische Entwicklung der Geschwister.

Schütz läßt Emanuel Gesprächsfetzen sammeln, Tagebucheintragungen, psychiatrische Protokolle oder Briefe. Aus diversen, sich überschneidenden Perspektiven rekonstruiert er die Biographien. Ohne Larmoyanz werden Lebenshöllen geschildert, alltägliche Einsamkeit, an deren Anfang das „freudlose Lachen“ der Mutter steht. Immer mehr beginnt man, sich für die Personen zu interessieren; nicht für ihr letztlich unspektakuläres Einzelschicksal, sondern für die Schnittstellen ihrer Wirklichkeitswahrnehmung.

David Schütz ist ein Autor der sogenannten „zweiten Generation“ in Israel, das heißt: der zweiten Generation nach der Shoah. Obwohl sein Roman in der Nazizeit spielt, thematisiert er den Nationalsozialismus nur am Rande. „Gras und Sand“ ist kein zeitgeschichtlicher, sondern ein archäologischer Roman, der die Psychologie seiner Charaktere Schicht für Schicht von dem Gras befreit, das über die Gräber in der Seele gewachsen ist, und von dem Sand, der die Erinnerung getrübt hat. Dieser scheinbar private Roman einer jüdisch-deutschen Familie ist im Hinblick auf den israelischen Umgang mit der deutschen Vergangenheit auch heute noch von gesellschaftlicher Relevanz. David Schütz erklärt das Nicht-Zustandekommen einer familiären Bindung nicht durch die Bedingungen, die der Faschismus gesetzt hat, sondern aus der Persönlichkeit der Figur Lotte-Miriam. Überhaupt sucht er nach Erklärungen, statt Schuld zuzuweisen: Geschichte ist für ihn keine moralische Erblast, sondern eine Kette von Kausalitäten, denen man nachgehen muß.

So überzeugend „Gras und Sand“ thematisch und strukturell ist, so sehr wankt die literarische Konstruktion leider in sprachlicher Hinsicht. Der Autor stolpert über den selbstgesetzten Anspruch der fiktiven Authentizität. Schütz gelingt es nicht, die Augenzeugen der Familiengeschichte wirklich zum Sprechen zu bringen. Ihre Sprache ist bemüht genau, immer wieder aufsatzhaft hölzern und humorlos. Vor allem aber: Sie ist bei allen gleich, ohne Unterschied von Alter, Mentalität und Erfahrung.

Der konzeptionell schlüssige, in Details präzise Roman scheitert schließlich an der sprachlichen Unglaubwürdigkeit seiner Figuren. Vielleicht war es die Nähe des Stoffs zu seiner persönlichen Geschichte, die Schütz die Form einer fiktiven Dokumentation wählen ließ – eine Wahl, die sich in literarischer Hinsicht leider als Fehler erweist. Petra Kohse

David Schütz: „Gras und Sand“, Claasen-Verlag, Hildesheim 1992, 322 Seiten, geb., 42 DM.

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