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Nach dem Sündenfall

Ethnographische Filme in Zeiten des Umbruchs: Dialogische Strukturen statt musealer Präservation  ■ Jutta Phillips-Krug

In einem Film aus Papua-Neuguinea ereignet sich folgende Szene: Einige Männer vom Stamm der Ganiga gehen eine Straße entlang und werden dabei von einem australischen Filmerpaar gefilmt. Der eine sagt: „Sieh mal, sie filmen uns. Sollen wir jetzt irgend etwas machen? Tanzen oder ein Lind singen?“ Der andere antwortet: „Nein, es ist nicht die Art Film.“

Welche Art von ethnographischem Film ist der Zeit kultureller Umbrüche und politischer Veränderungen angemessen? Mit diesem Thema beschäftigte sich beim diesjährigen Margaret Mead Festival des ethnographischen Films in New York eine Seminarveranstaltung mit Filmern und Ethnologen. Die Veranstaltungen werden vom Museum of Natural History, wo das Festival stattindet, und dem Institut für Visuelle Anthropologie organisiert. Seit Jahren beschäftigt man sich dort mit der Filmästhetik, der Struktur und Dramaturgie ethnographischer Filme.

Faye Ginsburg, die das Institut für Visuelle Anthropologie leitet, grenzte sich gegen ethnographische Filme ab, „in denen verschwindende Kulturen wie in einem Tiefkühlfach für die Nachwelt aufgehoben werden“. Statt dessen sollten sie aktuelle Veränderungsprozesse, Konflikte und Konfrontationen darstellen.

Den Zustand, den ethnographische Filme idealtypisch festhalten wollen, zeigt der erste Teil der Leahy-Filmtrilogie von Bob Connolly und Robin Anderson: In „First Contact“ sieht man den Zustand vor dem Eindringen der Weißen. Wenn Connolly von „before contact“ und „after contact“ spricht, klingt das wie „vor dem Sündenfall“ und „nach dem Sündenfall“ – vorher die Reinheit (der Kultur, der Rituale, der Feste), nachher die Verunreinigung.

In ihren drei Filmen aus Papua- Neuguinea, an denen sie zehn Jahre gearbeitet haben, zeigen Connolly und Anderson nicht nur 50 Jahre Geschichte Papua-Neuguineas vom „ersten Kontakt“ bis zur Gegenwart, sondern auch eine Geschichte der Wahrnehmung von der Konfrontation verschiedener Kulturen bis zur gemeinsamen, notwendigerweise konfliktreichen Geschichte. Im zweiten Film, „Joe Leahy's Neighbours“ (aus dem die Szene mit den Ganiga stammt), ist ihr Protagonist ein Mann, der mit zwei Identitäten lebt. Joe Jeahy lebt gleichzeitig als wohlhabender Geschäftsmann und als Stammesautorität bei seinen Nachbarn, den Ganiga.

Der dritte Film, „Black Harvest“, der vor kurzem offenbar ohne Resonanz auf dem Festival in Hof lief, zeigt, was aus dem gemeinsamen Projekt von Joe Leahy und seinen Nachbarn geworden ist. Als die Kaffee-Ernte beginnen soll, irrt Joe Leahy über die Plantage und fragt: „Where is everybody?“ Niemand ist gekommen, weil ein Stammeskrieg ausgebrochen ist, der sich monatelang hinziehen wird. Inzwischen werden die Kaffeefrüchte schwarz, und Joe Leahy bereitet seine Auswanderung nach Australien vor. Bei den Kämpfen mit Pfeil und Bogen und Gewehren sterben Hunderte von Menschen. Am Schluß des Films ist Joe Leahy bankrott, sein Partner und Kontrahent Popola, der sich in Erwartung des Reichtums ein Haus gebaut hatte, versinkt in Depression.

Den Zusammenprall zwischen Stammeskultur und Geldwirtschaft hält Connolly für den entscheidenden Konflikt in der Region. Auf diese Konfrontation hat er seine ganze Aufmerksamkeit gelenkt, jahrelang in der Region gelebt und im Team mit seiner Frau gefilmt. Er hat einen Erzählfilm gemacht mit dramatischen Szenen, Kontrahenten mit widersprüchlichen Interessen und einer Katastrophe am Schluß. Von seinen Zuschauern wünscht er sich Gefühle, Erschütterung, Mitleid.

Im Gegensatz dazu führt in Gary Kildeas Film „Valencia Diary“ der Konflikt weder zur dramatischen Rede noch zu dramatischen Aktionen. Der australische Regisseur hat in der Provinz Valencia, auf den Philippinen, die letzten Wochen vor der Wahl aufgezeichnet, bei der Marcos verlor und Cory Aquino gewann. Auf drei Ebenen wird die Veränderung vorbereitet: bei den Wahlkämpfern, bei einem Priester, der seine Gottesdienste für politische Information benutzt, und einer Landarbeiterfamilie, die zwangsweise umgesiedelt worden war.

Daß alle diese Details mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zum Wahlergebnis führen müssen, wird durch die Tagebuchform, den Countdown zum Wahltag, nicht überzeugender. Connolly beschrieb seine Entwicklung als Verzicht auf geschlossene Systeme. In „First Contact“ waren die goodies und die badies noch klar geschieden, die Regie unterstrich das, indem zweimal in Zeitlupe gezeigt wurde, wie die Weißen, um sich Respekt zu verschaffen, ein Schwein erschießen. Nicht nur bei ihm gibt es eine Entwicklung, weg von den geschlossenen Erklärungs- und Präsentationsmodellen: Brüche, Veränderungsprozesse innerhalb des kulturellen Regelsystems, offene Geschichten, Uneindeutigkeit und Vermischungen (einer der Filme hieß „Mixed Feelings“). Da es keine Ethnologen-Autorität mehr gibt, die sagt: „Ich erkläre euch jetzt mal, was hier passiert“, fehlt der autoritative Kommentar. Statt dessen Porträts, Episoden, Situationen.

An den Filmbeispielen vom Margaret Mead Festival sind nicht die Themen neu, sondern die Wahrnehmung. Ein Porträt: „Wedding Egyptian Style“ handelt nicht wie üblich die arrangierte Ehe, die ökonomischen Voraussetzungen, die Rechte von Männern und Frauen in Ägypten ab. Die Regisseurin Joanna Head, die den Film für die englische Fernsehserie „Under the sun“ gemacht hat, porträtiert eine ältere Frau. Die Bewegung des Films folgt ihr innerhalb des sozialen Spielraums (die Freundinnen, der Basar, ein Tanzclub) und des emotionalen, bei dem Hin und Her zwischen Intrigen, Planung und Großsprecherei. Sie benutzt den Film als Mittel der Selbstdarstellung, formuliert Rachegelüste gegen ihren Mann – er soll nur wiederkommen, damit diesmal sie ihn vor die Tür setzen kann – und drückt den Überschuß an Energie und Gefühl aus, der den engen Rahmen, der ihr zur Verfügung steht, sprengt.

Der Kommentar der Regisseurin besteht darin, die Aktivitäten der Frau vor der Folie einer Traumhochzeit zu zeigen, einer Hochzeit im Hotel mit Tanz und Musik. Die Selbstinszenierung der Frau wurde von dem New Yorker Publikum ambivalent aufgenommen. Ein Mann sagte: „Immer, wenn diese Frau den Mund aufmacht, vergiftet sie die ganze Leinwand.“

Ein fremdes Ritual: Die New Yorker Anthropologin Laurel Kendall hat in einem Buch, „housewives, shamans, restless spirits“, die Motive beschrieben, warum viele Frauen in Korea Schamaninnen werden wollen. Diese Frauen sind nicht verheiratet, müssen Geld verdienen, wollen anders und selbständig leben. In ihrem Film mit dem Titel „An Initiation Kut for a Korean Shaman“ zeigt sie eine junge Frau, die geschieden und depressiv ist und glaubt, daß ihr Unglück sie zur Schamanin bestimmt habe. Bei dem Initiationsritus wird sie von einer Schamanenlehrerin angeleitet. Damit sie als Schamanin arbeiten kann, muß sie das Ritual, das eine Menge Geld für Kostüme, Requisiten und die Anwesenheit anderer Schamaninnen gekostet hat, vor Zeugen erfolgreich beenden. Sie muß nicht nur demonstrieren, daß sie auf Messerschneiden balancieren kann, sondern auch im Namen bestimmter Geister wahrsagen. Das Ritual scheitert, und in diesem Scheitern wird sowohl die Persönlichkeit der jungen Frau sichtbar, die zu gehemmt ist, sich gehen zu lassen und eine Performance zu machen, als auch die Eigenschaften, die dieser Beruf erfordert. Das Ritual selbst, um das es sonst dem ethnographischen Film hauptsächlich geht, ist hier eine Nebensache. Wichtig ist, daß im Scheitern viel mehr von der Kultur und von den Aktivisten sichtbar wird.

Ein bekanntes Ritual: Ein Filmteam der BBC lebte ein Semester lang in Summerhill, der Schule von A.S. Neill, die jetzt von seiner Witwe und seiner Tochter geleitet wird. Bei der deutschen Diskussion um die antiautoritäre Erziehung ging es vor allem um die freiwillige Teilnahme am Unterricht. In „Summerhill at 70“ ist das Thema dagegen Aggression. Die Filmer beobachten, wie ein Junge, der zufällig alle Wut auf sich zieht, mit seiner Matratze von einem Zimmer zum anderen zieht und überall hinausgeworfen wird, und sie sehen zu, wie Jungen eine Katze quälen. Die Exkursionen und Eigenbewegungen der Kamera werden jeweils eingebracht in das Gruppenritual der Hausversammlung. Die Hausversammlung nimmt die Fälle auf und wandelt sie um.

Das Motto des Hauses ist: Was bei anderen verdeckt passiert, machen wir öffentlich. Nicht nur die Aggression wird durch das Ritual kanalisiert, sondern auch die Sexualität der Jugendlichen. Die Teenager werden in einer verballhornten Ehezeremonie getraut. Der Film wird interessant durch den Wechsel zwischen der Eigenbewegung der Kamera und der Unterordnung und Teilnahme an den Deutungen, die die Gruppe diesen Beobachtungen gibt.

In all diesen Filmen findet ein Dialog statt zwischen dem, was der Filmer als geformte Kultur vorfindet, und seiner subjektiven Wahrnehmung. Zur Frage: Wer bestimmt, was ins Bild kommt? Was wollen wir sehen? Was wollen sie uns zeigen? gibt es seit den sechziger Jahren Diskussionen. Im günstigsten Fall will man eine dialogische Form, ein Aushandeln der gegenseitigen Interessen erreichen.

In seinem Film „Portrait of a friend“, den Jean Rouch von der alten Margaret Mead gedreht hat, hat die Zusammenarbeit zwischen dem Filmer und seiner „Informantin“ Modellcharakter. Zu Beginn des Films spricht Jean Rouch die Zuschauer an: „Ich heiße Jean Rouch und stehe hier mit meiner Kamera vor dem Museum of Natural History in New York. Jetzt gehe ich hinein und besuche meine Freundin Margaret Mead in ihrem Arbeitszimmer.“ Er geht zu ihr und hält sie mit Reden und Fragen fest. Der Film dauert so lange, wie er mit ihr redet. Er bietet seine Aufmerksamkeit, seine Fragen, seine Kamera, und sie führt ihn, erzählt, zeigt. Mit einem Holzstab und einem Cape an den Heiligen Christophorus erinnernd, führt sie ihn durch das ganze Museum, damit auch durch ihr ganzes Berufsleben, das mit diesem Museum verknüpft ist. Es ist ein Rundgang durch die Naturgeschichte von den Dinosauriern bis zu den Menschen und ihrer Zukunft. Wenn sie ihn in Räume führt, stehen dort auch Mitarbeiter oder Besucher, aber er sieht sie nicht, solange sie sie ihm nicht zeigt. Ihr Wort dominiert sein Bild.

Im Kino Babylon hatte vor kurzem ein Film von Julia Kunert und Lilly Grote Premiere, der sich in ähnlicher Weise um eine dialogische Form bemüht. Die beiden Filmerinnen haben eine Gruppe namibischer Schulkinder begleitet, von der „Schule der Freundschaft“ in Staßfurt (ehemals DDR) über die Rückkehr nach Windhoek, die sowohl durch die deutsche Wende als auch durch die Unabhängigkeit Namibias beschleunigt wurde, bis (im 90-Minuten-Film „Mein Land“) zur Bestandsaufnahme ihrer heutigen Lebensbedingungen. Bereits im Film, einer Fernsehreportage, werden die Kinder einerseits inszeniert, in Gruppen zusammengesetzt und befragt, andererseits sollen, können oder dürfen sie sich selber inszenieren. „Erzählt mir was!“ wird ergänzt durch „Zeigt mir was!“

Die Lehrerin und der Lehrer aus Namibia machen in der leeren Turnhalle ausschließlich für die Kamera ein Programm, in dem sie das zeigen und sagen, was sie sicher schon auf vielen Freundschafts- und Solidaritätsabenden gesagt und gezeigt haben: eine Rede, einen traditionellen Tanz, noch eine Rede. Die Filmerinnen versuchen, die Lehrerin zum Reden zu bringen. Während sie warten, redet der Lehrer in die Pause hinein. Die Schüler zeigen einen Tanz, den sie sich aus einem amerikanischen Film gemerkt haben, ein Mädchen macht eine Führung durch die Kinderzimmer. Die Kamera geht mit, wartet, was ihr gezeigt wird, geht niemals näher an die Wand heran, um zum Beispiel in Großaufnahme die Postkarten, Pin-ups, Filmstarfotos und Familienfotos zu zeigen. Die Situation, gleichzeitig drinnen und draußen („Inside Out“, der erste Film) zu sein, zu Staßfurt und zu Windhoek zu gehören (der zweite Film), bleibt auch im dritten Film mit dem Titel „Mein Land“ bestehen. Sie lernen es kennen als Land Namibia und, in den deutschen Schulen und Kontaktfamilien, als ehemalige Kolonie Deutsch-Südwest.

Lilly Grotes und Julia Kunerts Filme zeigen die Grenzen und Möglichkeiten des dialogischen Films: Einerseits ermöglichen sie ein „Aushandeln der Interessen“ zwischen Filmern und Gefilmten, andererseits besteht die Gefahr, daß alles, was über momentane, subjektive Zustandsbeschreibungen hinausgeht, ausgespart bleibt.

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