Krieg, Blauhelme und europäische Politik

Die „verheerende Taktik des Mittelwegs“ im ehemaligen Jugoslawien/ In der Sprache des Auslands geht es um einen ethnischen Konflikt, nicht um einen Krieg/ Die Demütigung des Westens als sicherheitspolitische Bedrohung  ■ Von Dunja Melćić

Die europäische und westliche Politik insgesamt gegenüber dem serbischen Krieg ist verschiedentlich – und zuweilen sehr heftig, gerade auch von den angesehensten Kommentatoren der führenden Medien – kritisiert worden. All die zutreffende Kritik und Ermahnungen, endlich das Heft in die Hand zu nehmen, haben bei den Politikern und Verantwortlichen so gut wie nichts bewirkt. Man muß sich nun fragen, ob bei der „Einmischungsart“ des Westens nicht ein initialer Fehler unterlaufen ist, der sich in allen weiteren Entscheidungskomplexen fortsetzt und die Ausweglosigkeit vergrößert. Um es in der Computersprache zu sagen: Gab es da nicht einen Virus, der sich, wie sich die Aktionen ausweiten, immer weiter mitausbreitet, um letztendlich alle Aktionen lahmzulegen? Der systemischen Verselbständigung des Fehlers bleibt alle noch so begründete Kritik äußerlich. Wenn überhaupt noch etwas helfen kann, dann ist es der Versuch, den „Virus“ zu orten.

Die erste handfeste Aktion gegen den Krieg war die Stationierung der „friedenserhaltenden“ UNO-Einheiten in Kroatien. Die Entscheidung zur Stationierung der Blauhelme basierte auf zwei Postulaten: daß es erstens einen Frieden bzw. mindestens den Waffenstillstand gäbe, den es zu erhalten gilt, und zweitens, daß die UNO-Soldaten in den Krisenregionen der serbischen Minderheit ausreichenden Schutz bieten, folglich die Serben keine Angst mehr zu haben brauchen und ihre Waffen ablegen könnten. Beide Annahmen rühren daher, daß man die serbische Rhetorik des Bedrohtseins ernst genommen hat, sei es, daß man die Bedrohung als real einschätzte oder daß man meinte, mit der Beseitigung des angegebenen Motivs für den bewaffneten Widerstand der kroatischen Serben diesem den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Daß hinter der ersten Annahme ein fauler Trick steckte, wurde sehr bald vor allem in der britischen Presse vermutet: nämlich, daß mit dem Waffenstillstand vom Dezember 1991 und dem Vance-Plan nicht so sehr ein Frieden als vielmehr der Status quo der Usurpation und Okkupation gesichert wurde. Man fand allerdings nichts dabei, denn zu Schaden kam ein Volk, dem man von Grund aus ablehnend gegenübersteht, und ein Staat, den man sowieso nicht haben wollte.

Unter militärisch-strategischen Gesichtspunkten betrachtet, liegt das entscheidende Resultat des Vance-Planes darin, daß die kroatische Seite an der Rückgewinnung ihres Staatsterritoriums gehindert wird. Dessen konnten sich die Serben gewiß sein, unabhängig von jeglicher kämpferischen Rhetorik kroatischerseits und natürlich auch davon, daß sie selbst propagandistisch mit der Gefahr einer kroatischen Offensive weiterhin manipulierten. Für die Überprüfung der zweiten Annahme hat sich Cyrus Vane ein dreiviertel Jahr Zeit gelassen, um sich Mitte November zusammen mit seinem britischen Kollegen Lord Owen in Knin zu überzeugen, daß die Serben nicht im Traum daran denken, sich entwaffnen zu lassen, und noch weniger, den kroatischen Staat anzuerkennen. Die Ko-Präsidenten der „Jugoslawien“-Konferenz haben es nicht offen ausgesprochen, aber sie mußten zu diesem Zeitpunkt bereits erkannt haben, daß der Vance-Plan sich nicht durchführen läßt. Wann sie mit der Wahrheit herausrücken und ob sie es je tun werden, steht auf einem anderen Blatt.

In den meisten UNO-Schutzzonen haben die „Blauhelme“ auch kaum etwas für die Realisierung des Plans unternommen, sobald sie auf den Widerstand der Serben gestoßen sind. Außer den russischen Einheiten in Ost-Slawonien haben sich vor allem die kenianischen Soldaten in der Kniner Gegend durch eine so eklatante Passivität hervorgetan, daß sie zur „Verstärkung“ eine französische Einheit bekamen. Als die französischen Soldaten ernsthaft zur Erfüllung ihrer vorgesehenen Aufgaben übergingen, bekamen sie offensichtlich so große Schwierigkeiten, daß sie wieder in ein weniger brenzliges Gebiet verlegt wurden. Dies nur zur Illustration der prinzipiellen Undurchführbarkeit des Vance-Plans.

Man kann die Frage nach dem, was überhaupt jetzt weiter passieren soll, nur dann ernsthaft stellen, wenn ein klares Eingeständnis des totalen Scheiterns der „friedensbewahrenden“ Mission sowohl in Kroatien als auch in Bosnien-Herzegowina vorliegt. Es ist sicherlich nicht gewollt, aber im Resultat hat die Errichtung der von der UNO geschützten Gebiete in Kroatien den Serben die entscheidenden Offensiven in Bosnien erleichtert, wenn gar nicht zum Teil ermöglicht. Man denke zum Beispiel daran, daß sowohl die Truppen des Kniner Oberkommandierenden Ratko Martić in Bosnien ungestört operieren konnten, als auch daran, daß der ehemalige Oberst der „Jugoslawischen Volksarmee“, Ratko Mladić, der im dalmatinischen Hinterland die Eroberungen durchführte, jetzt der Oberbefehlshaber der sogenannten „serbischen Armee“ in Bosnien ist, wobei er zuvor in Belgrad zum General ernannt wurde.

Die massive Präsenz der UNO- Einheiten in Bosnien-Herzegowina wird gleichzeitig – humanitäre Hilfe hin, humanitäre Hilfe her – zu einer Falle. So können die eingeschlossenen Städte Gorazde und Srebrenica und die eingekesselte Region um Bihac nicht auf dem einfachsten Wege – nämlich aus der Luft – versorgt werden, weil man befürchtet, daß die Serben die Flugzeuge beschießen werden. Außerdem kann die Präsenz von so vielen Tausenden UNO- Soldaten in Bosnien – die nicht kämpfen dürfen – immer als Grund gegen ein Eingreifen herhalten – wenn es im Westen überhaupt einen Willen dazu geben würde –, weil man befürchten müßte, daß sie zu serbischen Geiseln werden könnten.

Die jetzige Ausweglosigkeit des eingeschlagenen „Mittelweges“, der den Bosniern und Kroaten den Tod bringt, ist im UNO-Friedensplan von Anfang an mit angelegt gewesen. Dies ergibt sich daraus, daß der ganze Konflikt mit den internen „balkanischen“ Kategorien beschrieben wird – oder, besser gesagt: Sie wurden in die zivilisierte Sprache des Westens unter dem Obertitel „ethnischer Konflikt“ übersetzt. Das Fehlen jeglicher Kategorien aus dem Katalog der westlichen Sicherheitspolitik bei der Beschreibung des Problems in den nun nicht mehr zu zählenden Resolutionen und Entschlüssen zeigt, daß man es behandelt als etwas, was den Westen und seine Interessen „eigentlich“ nichts angeht. So kommt darin nicht einmal das Wort „Krieg“ vor.

Wie will man einen Krieg „stoppen“, wenn man ihn gar nicht als Krieg begreift? Es mag sich mit den sicherheitspolitischen oder strategischen Interessen des Westens im Raum des ehemaligen Jugoslawien verhalten, wie es will, die bloße Definition des „Konflikts“ als Krieg würde ihn zum sicherheitspolitischen Problem Europas machen. Man mag sich auch noch so viel bemühen, beschwichtigende Ausdrücke wie „bewaffnete Auseinandersetzung“ oder „ethnische Säuberung“ zu finden, die Realität des Krieges und den Tatbestand des Völkermordes wird man mit dieser Sprache nicht aus der Welt schaffen können. Der Krieg für ein Großserbien hat zwar einige Sonderheiten – etwa in der Kombination der mittelalterlichen Städtebelagerung mit modernen Waffensystemen oder Massenvergewaltigungen als Mittel, die Reproduktionsfähigkeit der nichtserbischen Ethnien zu vernichten –, aber in den Grundbestandteilen handelt es sich um einen klassischen Krieg für Territorien, für den „Lebensraum“. Die Ziele sind klar, die Strategien auch.

Wenn nun das Eingreifen des Westens an der Verleugnung des kriegerischen Tatbestandes scheitert, dann soll man sich fragen, warum es zu dieser Verleugnung kam. Die Antwort auf diese Frage ist ebenso einfach wie tragisch. Die Handlungsunfähigkeit des Westens hängt mit der bekannten sicherheitspolitischen Lage in Nachkriegseuropa und der fatalen Sicherheitspolitik Titos zusammen. Wenn auch klar ist, daß die Sicherheitspolitik Titos ebenso entscheidend durch die kommunistische Ideologie geprägt wurde, kann man sie dennoch für sich genommen betrachten. Dem antifaschistischen Widerstand nahm der dogmatische Kommunist Tito noch während des Krieges seinen freiheitlichen Impetus weg: Er führte das Land nicht nur gesellschaftspolitisch in den Stalinismus, sondern auch weg von der westlichen Siegerallianz und geopolitisch zunächst zum Ostblock und dann in die Isolation.

Die Tragik dieser Entwicklung kann man begreifen, wenn man weiß, daß gerade in den westlich orientierten Republiken Bosnien- Herzegowina, Kroatien und Slowenien der Antifaschismus am stärksten und erfolgreichsten war. So verständlich das Ausscheren aus dem Ostblock und Warschauer Pakt 1948 auch war, so unverständlich war es, sich in die sogenannte Blockfreiheit zu begeben, die nichts anderes bedeutete, als daß Jugoslawien keinerlei europäische Bündnispartner hatte und in ein sicherheitspolitisches Vakuum eintrat. Das Argument, daß die Sowjetunion Tito keinen anderen Spielraum gelassen hätte und ihre Doktrin der begrenzten Souveränität auch weiterhin in Jugoslawien ausspielen konnte, ist, wenn man es an dem Risiko des Bruchs mit der Sowjetunion 1948 mißt, wenig überzeugend. Tito wählte den selbstmörderischen Sonderweg, um sich und seinen dogmatischen Kommunisten die Macht zu sichern. Wenn man sich die geopolitische Lage Jugoslawiens anschaut, ist es klar, daß diese widersinnige sicherheitspolitische Isolation so lange nicht prekär wurde, solange es den Patt des Kalten Krieges gab.

Mit dem Zerfall des jugoslawischen Bundesstaates wurde die Bündnisfreiheit für die kriegführende Partei im eigenen Lande, die sich die gesamten Waffenpotentiale angeeignet hatte, zum Trumpf und für die Angegriffenen zum Verhängnis. Ausgehend von der selbsterwählten Blockfreiheit und der Beendigung des ostwestlichen Hauptkonflikts betrachtete man den Zerfall Jugoslawiens als eine Krise ohne sicherheitspolitische Konsequenzen, während sie gerade deshalb enorm sind, weil jetzt nicht mehr bloß das zerfallene Land im sicherheitspolitischen Vakuum der Bündnisfreiheit blieb, sondern auch die gesamten osteuropäischen ehemaligen Satelliten der Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten in ein solches geraten sind, das durch die KSZE nicht aufgefangen werden kann.

Unter dem Eindruck der deutschen Einigung begriff man die epochalen Ereignisse des Zerfalls des Kommunismus und des Wegfalls der militärischen Bedrohung als die eigentliche Beendigung der Nachkriegszeit. Aber die Beendigung der Nachkriegszeit kann gleichzeitig ein Fanal für die neue Kriegszeit sein. Denn sie bedeutet die Beendigung der Gewaltordnung, die aus den beiden Weltkriegen entstanden ist: sowohl der Teilung als auch des gewaltsamen Zusammenhaltens dessen, was nicht zusammengehört. Darin liegt die sicherheits- und ordnungspolitische Bedrohung Europas, der der Westen nichts entgegenzusetzen hat. Die Partei, die durch die Beendigung der Gewaltordnung zu verlieren meint und sich militärisch stark genug fühlt, kann nach Belieben zuschlagen, ohne befürchten zu müssen, daß sich ihr etwas in den Weg stellt. Die Nachkriegszeit geht nicht so zu Ende, wie sie es sollte und konnte: als Triumph der Unmöglichkeit des Krieges in Europa.

Die Unfähigkeit, den Krieg in Europa zu verhindern, trägt die Handschrift der ehemaligen Kolonialmächte. Den Krieg in Europa als einen „Stammeskonflikt“ aus der Dritten Welt zu behandeln half auch die unglückliche Konstellation, daß Tito selbst sein europäisches Land in die „Dritte Welt“ hinauskatapultiert hatte. Außer Eigenverschuldung war dieser „Sonderweg“ aber auch eine Folge des Zweiten – und wie dieser selbst auch des Ersten – Weltkrieges. Der schiefe Blickwinkel der ehemaligen europäischen Kolonialmächte, der aus dem Krieg den „ethnischen Konflikt“ machte, hat ihm seinen geschichtlich-europäischen Zusammenhang weggenommen. Dies machte ihn geschichts- und raumlos in bezug auf die Imperative einer europäischen Sicherheits- und Ordnungspolitik und bestimmte dann die gesamte Taktik des verheerenden „Mittelweges“.

Der hiermit eingeschleuste Virus der falschen Perspektiven breitete sich in Sarajevo und Bosnien- Herzegowina insgesamt in eine Epidemie des orientierungslosen Aktionismus aus, der fast einer Simulation gleichkommt. Aus der Perspektive des sicherheitspolitisch irrelevanten Konflikts resultierte die Verleugnung des Krieges und damit auch die absurde Situation, daß die UNO-Truppen mitten im Kriegsgebiet stationiert werden, ohne die Angegriffenen als solche anerkennen zu dürfen – das heißt jene, die ihr Hab und Gut, ihre Familien und das nackte Leben verteidigen. Sarajevo als ein riesiges Ghetto ist das wahre Sinnbild dieser Situation als zerstörte Stadt, in der die Bevölkerung hungert, friert und gemordet wird und in ihrer nächsten Nachbarschaft gut versorgte und ausgebildete Soldaten hat, die Lebensmittelpakete austeilen, wenn sie es können. Wenn es keine Angreifer- und keine Verteidigerpartei geben darf, dann wirkt sich der Einsatz der UNO-Soldaten als „Puffer zwischen den Bürgerkriegsparteien“ zwangsläufig zugunsten der Angreifer aus.

Das kann sogar so weit gehen, daß der ehemalige Befehlshaber der UNPROFOR – der kanadische General McKenzie – im Sommer seine Mission mit der Feststellung schloß, die bosnischen Muslime sollten eben kapitulieren. Auch sein Nachfolger, der französische General Morillon, entwickelt zweifelhafte Aktivitäten, deren Folge Demütung und Brüskierung der Muslime und der bosnischen Regierung sind. Ihr Höhepunkt war das Ende November organisierte Treffen des (ahnungslosen) Generals der kroatischen Armee Janko Bobetko mit der serbischen Seite in Bosnien unter Ausschluß der bosnischen – muslimischen und kroatischen – Befehlshaber, dessen Nebenprodukt(?) eine Kompromittierung der kroatischen Politik ist. Wird denn so aus einer strikt an Neutralität gebundenen Instanz nicht unterderhand eine, die auf zweifelhafte kleine politische Lösungen drängt, um die eigene Hilflosigkeit zu kaschieren?

Eins ist sicher: Mit solchen Handlungen wird das Bosnien- Projekt von Lord Owen und Cyrus Vance einer dezentralisierten, aber einheitlichen Republik – übrigens einer der wenigen vernünftigen Vorstöße westlicher Politik, zu dem es leider viel zu spät kam – vollends konterkariert. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, einerseits auf dem Prinzip der Unveränderbarkeit der Grenzen zu beharren und andererseits den Status quo der gewaltsam veränderten Grenzen hinnehmen zu wollen.

Die Kehrseite der widersprüchlichen Politik des Westens gegenüber dem serbischen Krieg auf dem Balkan ist eine immer offenere Demütigung des Westens und der UNO. Man versucht dies zu vertuschen, indem man die entsprechenden Berichte unterschlägt. Verbergen läßt es sich aber nicht mehr. Die Demütigung des Westens ist freilich eine gewaltige sicherheitspolitische Bedrohung. Es wird immer unwahrscheinlicher, daß dies in den Vereinigten Staaten weiterhin vernachlässigt wird.