Dialektik der Scham

Körpergeschichten – jenseits von Elias und Foucault  ■ Von Rebekka Habermas

Lange vor Foucaults monumentaler Geschichte der Sexualität war der Körper schon Objekt historiographischer Begierden. Im 19. Jahrhundert hatte sich eine Kultur- und Sittengeschichte mit wachsendem voyeuristischem Eifer bemüht, die Vergangenheit der Körper zu erforschen. Unzählige Geschichten über Schönheitsideale und Liebespraktiken, Prostitutionsusancen und Penetrationsformen, fein säuberlich nach Epochen unterschieden und – trotz aller Plastizität der Darstellung – doch nur beziehungslos nebeneinander aufgelistet, fanden insbesondere beim bürgerlichen Lesepublikum begeisterte Aufnahme.

Vorläufiger End- und schließlich neuer Ausgangspunkt des historiographischen Interesses an Körper und Moral war Norbert Elias' in den dreißiger Jahren erschienene Zivilisationsgeschichte. Elias nämlich beschränkte sich nicht auf eine Beschreibung von Liebes- und Eßpraktiken, sondern versuchte, Sitten und Moral in einem größeren Zusammenhang zu interpretieren. Seine These, daß sich seit dem Mittelalter ein Prozeß der zunehmenden Affektkontrolle und ein Ansteigen der Scham- und Peinlichkeitsgrenze beobachten läßt, steht bis heute – zuletzt durch die Arbeiten Hans Peter Duerrs – im Mittelpunkt der Diskussion. Im Unterschied zur traditionellen Sitten- und Kulturgeschichte hat Elias nämlich – und darin liegt vielleicht sein eigentliches Verdienst – erstmals mit der schon von Eduard Fuchs geforderten Demontage der Vorstellung von einer „ewig unwandelbaren sittlichen Idee“ Ernst gemacht.

Nachdem schließlich in den achtziger Jahren die ersten Bände von Foucaults Geschichte der Sexualität erschienen waren, in denen er die Geschichte der Sexualität nicht als Fortschritts- oder Zivilisationsgeschichte, sondern als einen Prozeß der Repression und Disziplinierung beschreibt, erwachte auch innerhalb der Fachhistorie erneut Interesse an der Geschichte des Körpers. Angefangen von Jean Claude Schmitts Geschichte der Gebärden und Gesten im Mittelalter bis hin zu Barbara Dudens Geschichte des weiblichen Körpers im 18. Jahrhundert (um nur zwei sehr unterschiedlich arbeitende VertreterInnen zu nennen) trugen solche Arbeiten – im Unterschied zur traditionellen Kulturgeschichte und in Anlehnung an Foucault und Elias – der Tatsache Rechnung, daß der Körper selbst eine Geschichte hat. Anders als Elias und Foucault wollte die Geschichtswissenschaft freilich nicht an weiteren Zivilisations- oder Verfallsgeschichten basteln. Ziel dieser fachhistorischen Unternehmungen war vielmehr, herauszubekommen, wie es wirklich war.

Jüngstes deutschsprachiges Beispiel einer solchen Körpergeschichte ist der von Norbert Schnitzler und Klaus Schreiner herausgegebene Band „Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit“. In über einem Dutzend Beiträge werden die verschiedenen Aspekte des Körpers beleuchtet. Das Spektrum reicht dabei von den theologischen Grundlagen, die die Körpererfahrung geprägt haben, über die Frage, wie es um die Scham- und Peinlichkeitsgrenzen bestellt war, bis hin zu den Problemen einer historiographischen Interpretation von bildlichen Körperdarstellungen. Es sind die unterschiedlichsten, sich im Laufe der Lektüre nach und nach zusammenfügenden Facetten, die zwar keineswegs zu einer systematischen Geschichte des Körpers führen, aber eines ganz deutlich machen: Zivilisation hin, Repression her – geradlinig ist auch eine Geschichte des Körpers nicht.

Zentraler Bezugspunkt für die mittelalterliche Körpererfahrung war – wie Klaus Schreiner deutlich herausarbeitet – der „Sündenfall“. Mit Evas Griff zum Apfel war das Böse in die Welt gekommen: alle geistigen und psychischen Gebrechen, die Mühsal der Arbeit und die Schmerzen der Geburt, ja selbst die Herrschaft des Menschen über den Menschen, vor allem aber die Herrschaft der Männer über die Frauen. Auch die Scham kam mit dem Sündenfall: schließlich bedurfte es erst Adams Verführung, bis beide ihrer Nacktheit gewahr wurden. Mit dieser schlichten und von vielen hundert Bibelexegeten stets aufs neue wiederholten Erklärung für alle Übel der Welt konnten die Menschen im Mittelalter auch Antworten auf die Grundfragen der menschlichen Existenz erhalten. Und – was im Alltag fast wichtiger war: Der Sündenfall gab Kategorien an die Hand, um die eigene und fremde Körperlichkeit wahrzunehmen und zu deuten.

Das änderte sich erst mit der Renaissance, die statt des Sündenfalls den Imago-Dei-Topos in den Mittelpunkt rückte. Wie deutlich auf den Bildern der florentinischen Malerei zu erkennen, wurde aus einem stets nur als verdammt wahrgenommenen Wesen eine Gestalt, die eben aufgrund ihrer Ebenbildlichkeit Gottes auch Würde und Erhabenheit besitzt. Damit wurde, wie Beate Hentschelk deutlich macht, auch der Körper rehabilitiert.

Diese Rehabilitation hatte indes viele Seiten: In Kim H. Veltmans brillantem Aufsatz über die Körperstudien Leonardo da Vincis ist nachzulesen, daß die in der Renaissance entwickelten neuen künstlerischen Techniken der Perspektive (die es zum Beispiel ermöglichten, jedes menschliche Organ von hinten, vorne, unten, oben zu zeichnen und es Leonardo überdies erlaubten, die verschiedenen Ebenen des menschlichen Körpers – von den Knochen zu den Bändern, den Muskeln, Sehnen, Nerven und Venen – zeichnerisch festzuhalten) auch zu einem distanzierten Blick auf den menschlichen Körper führten. Mit Leonardo da Vincis Studien wurde gleichsam der entscheidende Schritt zu einer modernen Medizin getan, die nun erstmals ins Innere blicken kann, die aus dem Zugewinn an Objektivität, Distanz, ja Kühle erstmals Schaubilder anfertigen kann, „ohne mit dem Geruch und der möglicherweise blutigen Ansicht des Originals konfrontiert zu werden“. Damit geht auch die Erkenntnis einher, daß nur das Innere an die Oberfläche gebracht werden müsse, um die für die Heilung des Patienten nötige Transparenz zu erreichen. So bescherte die Renaissance dem Körper nicht nur Würde, sondern auch Transparenz.

Machen diese Beiträge augenscheinlich, daß Zivilisations- und Verfallsgeschichten differenziert werden müssen, so zeigt der Aufsatz von Norbert Schnitzler, daß schon das methodische Rüstzeug des großen Kultursoziologen Elias von mangelhafter Qualität war. Das Entziffern von Bildern setzt nämlich bestimmte soziokulturell erworbene Fertigkeiten voraus, die im Unterschied zu den ZeitgenossInnen von heutigen Betrachtern nicht mehr selbstverständlich beherrscht werden, sondern mühsam (etwa entlang von ästhetischen Traktakten aus jener Zeit) rekonstruiert werden müssen. Schnitzler kommt – im Unterschied zu Elias – auf der Grundlage einer akribischen Rekonstruktion zu dem Ergebnis, daß Nacktdarstellungen keineswegs nur als verdammenswürdige Projektionsfläche ungezügelter Affekte verstanden wurden; sie sind etwa auch auf Andachtstafeln und in Passionszyklen zu finden und konnten, wie bei Gion Paolo Lamazzo, gleichsam als Inkarnation öffentlicher Disziplin gelten. Seine Körperdarstellungen, die die Zusammenhänge von äußerer Signatur und inneren Gegebenheiten vergegenwärtigen wollten, folglich didaktischen Intentionen entsprangen, wurden nämlich auch als anatomisch lehrhafte Darstellungen verstanden – und hatten folglich mit Zivilisation und Repression gleich wenig zu schaffen.

Einen ganz anderen Aspekt der frühneuzeitlichen Körpergeschichte beleuchtet Robert W. Schribner. Er untersucht, wie die „volksfromme Schaulust“, ja Schaulüsternheit die Darstellungsformen des menschlichen Körpers selbst veränderte. Robert Jütte wiederum beschäftigt sich mit dem nackten Körper und kann ebenfalls nachweisen, daß die Kategorien des Ansteigens oder Schwindens von Scham letztlich viel zu kurz greifen; er plädiert statt dessen für eine Dialektik der Scham. Andere Beiträge untersuchen die Malträtierungen, die der Körper im Strafsystem erleiden mußte, und schließlich geht es auch um dem bewegten Körper.

Der Band verdeutlicht, daß die Demontage der Vorstellung von einer „ewig unwandelbaren sittlichen Idee“ einen ersten Schritt darstellte, ohne den weder Elias noch Foucault denkbar wären, und aus der auch die heutige Körpergeschichte ihre innovative Kraft gewinnt. Augenscheinlich wird aber auch, daß diese Demontage weit radikaler vorangetrieben werden muß, als es Elias und Foucault taten. Erst die Rekonstruktion der Erfahrung und Wahrnehmung des eigenen und des fremden Körpers ermöglicht es, den Hauch einer Ahnung davon zu erhaschen, wie es eigentlich gewesen ist. Und just diese Erfahrungen und Wahrnehmungen sind, da in steter Bewegung und in Beziehung mit anderen Menschen – der dörflichen oder städtischen Gemeinschaft, der kleinen und großen Politik und Ökonomie –, so komplex, daß sie, interpretiert als Zivilisations- oder Repressionsgeschichte, eher vergewaltigt als verstanden werden.

Klaus Schreiner/Norbert Schnitzler: „Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit“. Wilhelm Fink Verlag, München 1992, 416 Seiten, zahlreiche Abb., 78 DM.