■ Nach dem Referendumsprojekt des russischen Präsidenten
: Jelzins Drohung

Die Konfrontation zwischen Jelzin und dem russischen Voksdeputiertenkongreß hat am Donnerstag ihren Höhepunkt erreicht. Der Präsident war gezwungen, sich an die Bevölkerung zu wenden und um eine direkte Legitimierung seiner Macht zu bitten. Dieser Konflikt war durch die Struktur der politischen Institutionen vorprogrammiert. Der russische Deputiertenkongreß ist eine getreuliche Kopie des ehemaligen Gorbatschowschen Volksdeputiertenkongresses. Fast ausschließlich aus ehemaligen Nomenklaturisten zusammengesetzt, ist er genauso wie sein verblichenes Vorbild durch Fraktionen paralysiert und nur zur Aufrechterhaltung des Status quo tauglich. Seine historische Rolle – Konfrontation mit der Unionsmacht, Erklärung der Unabhängigkeit – hat er bereits 1991 erfüllt. Er bestätigte auch Jelzins Vollmachten, die ihm erlaubten, sich von der tagtäglichen kleinlichen Kontrolle der Legislative zu befreien. Diese Vollmachten waren auf den 1.Dezember 1992 befristet. Der Block der kommunistischen und patriotischen Fraktionen, kurz die „Rot-Braunen“ genannt, traten mit aktiver Unterstützung des Parlamentspräsidenten Ruslan Chasbulatow mit einer scharfen Kritik am Präsidenten und der Regierung Gaidar auf.

Die Legislative weigerte sich, Grundelemente der Reform wie die neue Verfassung, ein neues Bodenrecht oder die Privatisierung der Produktionsmittel in Kraft zu setzen. An ihrer Verhinderungs- beziehungsweise Verzögerungsstrategie scheiterte jeder Kompromiß. Deswegen hat Jelzin dem Kongreß ein Ultimatum gestellt. Die Reaktion der Deputierten war äußerst heftig – Chasbulatow bezeichnete Jelzins Politik als „unmoralisch“. Jetzt war Jelzin gezwungen, in die Offensive zu gehen und die Beseitigung der ausgedienten, abgelebten politischen Strukturen zu fordern.

Dies ist das Wesen seiner jetzigen Wendung an die russische Bevölkerung. Das Problem besteht nur darin, daß die Autorität nicht nur des Parlaments, sondern auch der Regierung und selbst Jelzins rapide verfallen ist. Anders gesagt, die Zeit für die notwendigen radikalen Reformen ist verstrichen, und es ist nicht zu erwarten, daß die Bevölkerung weiter Bereitschaft zeigt, sich an neuen politischen Spielen zu beteiligen. Jelzins Chancen für eine Mobilisierung Rußlands sind jetzt äußerst niedrig. Zu erwarten ist, daß die Beteiligung an dem Referendum so niedrig sein wird, daß weder die demokratische noch die konservative Position sich durchsetzen kann. Insofern ist Jelzins Appell nicht die Ultima ratio, die endlich klare Verhältnisse schafft, sondern nur eine Drohgebärde in Richtung des konservativen Parlaments. Sonja Margolina und Lew Gudkow

Sonja Margolina ist freie Autorin und lebt in Berlin. Lew Gudkow ist Soziologe aus Moskau und Mitarbeiter des Allrussischen Instituts für Meinungsforschung. Er lebt zur Zeit in Berlin.