■ Nur die Politische Union wird Europa zusammenhalten
: Maastricht ad acta legen

Verträge schließt man für den Krisen- und Konfliktfall. Die Römischen Verträge zur Europäischen Wirtschaftsunion von 1957, auf deren Grundlage Ende dieses Monats der EG-Binnenmarkt entsteht, waren von Anfang an mehr als reine Wirtschaftsverträge. Die EWG-Gründer wollten damals mittels wirtschaftlicher Stabilisierung eine weitere Sicherung gegen Krieg in Europa schaffen. Die Deutschen wurden auch deshalb in die westeuropäische Zusammenarbeit einbezogen, weil sich in den europäischen Nachbarländern die Meinung durchsetzte, daß es besser sei, diese unheimliche Nation in die Nachkriegsgemeinschaft einzubinden, um sie unter ständiger Beobachtung halten zu können.

Das Gebiet der Wirtschaft bot sich als relativ unverfänglich an: Um gemeinsame Geschäfte zu tätigen, bei denen alle Beteiligten ihren Wohlstand mehren können, braucht man sich nicht zu lieben. Ein zunächst kühl-sachlicher Umgangston erleichtert im Gegenteil das Geschäft.

Daß man Geschäftsfreunde tunlichst nicht mit Freunden verwechseln sollte, dürfte die gängige Erfahrung jedes Unternehmers in geschäftlichen Krisenzeiten sein. Wie wenig verbindend Wirtschaftsverträge sind, zeigt sich auch in der EG. Die Säule der Maastrichter Verträge, das Abkommen über den Weg zur Europäischen Währungsunion (EWU), bröckelt, noch bevor sie fertiggestellt ist: Die Ratifizierung, von den Regierungschefs als formaler Akt parlamentarischer Zustimmung zu Maastricht gedacht, wurde nicht im vorgesehenen Zeitraum vollzogen. Sie geriet gerade in den reichen Kernländern der EG zum Politikum. Daß die Volkswirtschaften rezessive Tendenzen zeigen, die übrigens nicht unbedingt in eine handfeste Rezession münden müssen, genügte, um Verlustängste zu schüren.

Ein Jahr nach Maastricht zeigt sich somit, daß die Verträge nicht nur nicht für den Krisenfall taugen, sondern bereits dann versagen, wenn eine Wirtschaftskrise in den Bereich der Möglichkeit rückt. Im September reichten drei Tage konzertierter Spekulation an den Devisenmärkten, um das Europäische Währungssystem (EWS) zum Einsturz zu bringen – jene Basis, auf der die Währungsunion bis 1999 verwirklicht werden sollte. Die Ursache war keineswegs, wie manch ein EG-Minister glauben machen wollte, die Macht des internationalen Spekulationskapitals, sondern die Schwäche des Systems. Das EWS war zu dem Zeitpunkt im wesentlichen nurmehr ein Potemkinsches Dorf. Die Volkswirtschaften der EG, für deren Zustand der Wechselkurs lediglich Ausdruck sein kann, hatten sich nämlich nicht im Gleichklang entwickelt. Die Regierungen der wirtschaftlich schwächeren Länder hatten, vor allem aus Imagegründen, an den Wechselkursen für ihre jeweilige Währung festgehalten, als die Wirtschaften schon längst auseinandergedriftet waren, und damit das EWS ausgehöhlt.

Auf ihrem diesjährigen Gipfeltreffen in Edinburgh werden die Regierungschefs heute weiter über Reparaturen an dem längst gescheiterten Vertragswerk beraten mit dem alleinigen Ziel, Maastricht doch noch an den Bürgerinnen und Bürgern vorbei durchsetzen zu können. Doch auch wenn das Wort „Subsidiaritätsprinzip“ so oft in die Mikrofone gesagt wird, daß es anschließend jeder EG-Bürger ohne zu stottern wird aussprechen können, wird der Konstruktionsfehler nicht behoben. Anstatt weiter Flickschusterei zu betreiben, sollten die Regierungschefs den Mut finden, Maastricht zu den Akten zu legen und sich die Grundsatzfrage zu stellen: Was eigentlich hält die EG zusammen außer dem System der festgelegten Wechselkurse und dem Wunsch, möglichst einträgliche Geschäfte miteinander zu tätigen?

Die Stärken der (West-)Europäischen Gemeinschaft lassen sich wohl am ehesten mit Blick auf Osteuropa erkennen. Neben ihrem Wohlstand hat die EG in ihren Mitgliedstaaten zur Festigung der Demokratien beigetragen (wobei es hier nicht darum geht, daß diese manche Mängel aufweisen). In Spanien, Portugal und Griechenland gilt die Zugehörigkeit zu „Europa“ vielen Menschen als Ausdruck dafür, daß sie ihre Diktaturen endgültig hinter sich gelassen haben. Gerade uns Deutschen (West) fällt es offenbar schwer, die Nachkriegs-Prioritäten umzukehren und Demokratie und Frieden nicht als Dreingabe des Wohlstands zu sehen, sondern als dessen Fundament.

Das große Versäumnis von Maastricht war, daß die Regierungschefs nicht bereit gewesen sind, die EG auf den Weg weg von ihrem allmächtigen Ministerklub zu einer demokratisch strukturierten Staatengemeinschaft zu bringen. Dann nämlich hätten sie als erstes die Politische Union beschließen müssen. Die Wirtschafts- und Währungsunion wäre anschließend von selbst als Teil einer Europäischen Union entstanden.

Zu befürchten steht heute nach dem Versäumnis von Maastricht der Fehlschluß von Edinburgh, für den zumeist wie folgt argumentiert wird: Die Europäische Union müsse vertagt werden, weil die Bevölkerungen durchgehend zur Hälfte gegen die Maastricht-Verträge seien und damit gegen Europa.

In Wirklichkeit haben sich die Regierungschefs das Mißtrauen der EG-BürgerInnen gründlich erarbeitet. Ministerrunden, die über Autobahnvignetten, Salatölsubventionen und Bierrezepte streiten; ein gewähltes Parlament, das auf die Besetzung der Exekutive EG-Kommission keinen Einfluß hat; große Worte über fallende Grenzen, die sich in keiner Weise mit den Erfahrungen derjenigen Europäer decken, die ihren Wohnsitz oder auch nur ihren Arbeitsplatz außerhalb ihres Herkunftsstaates haben wollen; das permanente Gezerre und Gezetere darum, welcher Staat nun wieviel zuviel in die EG-Gemeinschaftskasse gezahlt hat; – die Liste ließe sich verlängern.

Wen wundert's außer den Herren Regierenden, daß das EG- Volk schlicht nicht an den schönen Eingangstext der Maastrichter Verträge glauben will, in dem es heißt: „Dieser Vertrag stellt eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar, in der die Entscheidungen möglichst bürgernah getroffen werden.“

Auch wenn dieser Text sich im Jahr eins nach Maastricht wie Realsatire liest: Europa, und damit zuerst die EG in ihren heutigen Grenzen, braucht nicht weniger, sondern mehr Integration. Dieses Ziel wird die EG nicht erreichen, wenn ihre Regierungschefs weiterhin krampfhaft die einmal gewählte Sackgasse weiterverfolgen. Um das politische Ziel der Vereinigten Staaten von Europa zu erreichen, müssen die Regierungschefs den Wirtschaftsvertrag durch einen Staatenvertrag ersetzen. Darin muß das gewählte Parlament die Gesetzgebungskompetenz auf der zu definierenden EG- Ebene erhalten und Kontrollbefugnisse gegenüber der Exekutive (heute die EG-Kommission) erhalten.

Eine solcherart demokratisch verfaßte Europäische Gemeinschaft gegen die nationalistisch motivierte Gewalt, die vor drei Jahren niemand mehr auf diesem Kontinent für möglich gehalten hätte, ist heute angesichts des Krieges in Jugoslawien und der Exzesse gegen Einwanderer oder Juden in Deutschland notwendiger als vor einem Jahr. Daß die in Edinburgh versammelten Regierungschefs auf dieses Ziel hinarbeiten werden, ist leider nicht zu erwarten. Sie würden sich schließlich selbst entmachten. Donata Riedel