Jelzin taktiert mit seiner Macht

■ Der Üräsident will das Volk fragen, welchen Führer es will; ihn oder den Volksdeputiertenkongreß

Jelzin taktiert mit seiner Macht

Hart, kompromißlos und unversöhnlich wandte sich gestern Präsident Boris Jelzin in seiner Rede vor Rußlands Volksdeputiertenkongreß mit der Aufforderung an das russische Volk, durch ein Referendum zu entscheiden, wer denn nun das Land zukünftig regieren solle. Der Präsident, der Kongreß oder das Parlament und sein Vorsitzender Chasbulatow, die danach strebten, die Reformen im Keime zu ersticken, sagte Jelzin eiskalt – ohne eine Miene zu verziehen. Ihn beeindruckte auch nicht das Votum der Volksdeputierten, die mit 740 zu 51 Stimmen das Referendum glatt ablehnten.

Die Möglichkeit, ein Referendum abzuhalten, wurde schon seit langem im Umkreis Jelzins erwogen. Der Kongreß, Rußlands höchstes gesetzgebendes Gremium, hatte konsequent die Durchsetzung reformerischer Politik zu hintertreiben versucht. In der Mehrheit gehören ihm konservative und reaktionäre Parlamentarier an, die noch während der Endphase der kommunistischen Macht gewählt worden waren. Ausschlaggebend für Jelzins Kriegserklärung war die Weigerung der Abgeordneten vom Vortage, Jegor Gaidar als Jelzins Premier zu bestätigen. Mit einer knappen Mehrheit von 54 Stimmen hatten die Gesetzgeber Gaidar abgelehnt.

Zuvor hatte Jelzin der Legislative noch einige Konzessionen gemacht, in der Annahme, dafür „seinen“ Premier zu erhalten. Zukünftig sollte sie bei der Besetzung von vier Schlüsselministerien über ein Vetorecht verfügen.

Der Präsident hatte sich auf diesem Kongreß ungewöhnlich zahm und kompromißbereit gezeigt, um seine Widersacher aus dem Lager der Zentristen in der Bürgerunion um Vizepräsident Alexander Rutskoi für sich zu gewinnen.

Jelzin kündigte in seiner Rede ebenfalls an, Gaidar werde weiterhin geschäftsführender Premier bleiben, und in der Zusammensetzung seines Kabinetts ändere er nichts. Obwohl die Möglichkeit eines Referendums lange erwogen wurde, läßt sich daran zweifeln, ob Jelzins Schritt gestern wohlüberlegt war und im richtigen Augenblick erfolgte. Seine Rede, die kein versöhnliches Moment enthielt, mußte von den Abgeordneten als Schlag ins Gesicht empfunden werden. „Ich appelliere direkt an die Völker Rußlands. Was sie (die Kommunisten) im August 1991 nicht geschafft haben, wollen sie nun über den Weg eines schleichenden Putsches wiederholen.“ Besonders freundliche Worte fand er für den Vorsitzenden des Kongresses, Ruslan Chasbulatow, der seit langem versucht, mittels windiger Manöver seine Macht über die Legislative gegen die Regierung zu kehren. „Dies ist kein Weg zurück, es ist ein Weg nirgendswohin, und Chasbulatow ist der Hauptexponent dieses Kurses.“

Jelzin ging noch weiter. Er beschuldigte seinen Gegenspieler, offen die Sache der „Nationalen Rettungsfront“ unterstützt zu haben. Die Front – eine Vereinigung rechtschauvinistischer Kräfte – hatte Jelzin im Oktober verboten. Was Rußland auf dem Kongreß heute sähe, „ähnelt sehr der Situation, als das Land noch vom Politbüro der Kommunistischen Partei regiert wurde“.

Nach seinem Auftritt forderte Jelzin die demokratischen Abgeordneten auf, den Saal mit ihm zu verlassen. Auch die Regierung folgte ihm. Bis auf Vizepräsident Alexander Rutskoi. Er blieb sitzen und kommentierte später, er habe auf Jelzin eingewirkt, das Referendum nicht durchzuziehen: „Die gesellschaft ist schon zu sehr mit Konfrontation überladen.“ Angeblich hat Jelzin den Moment seines Frontalangriffes ohne Rücksprache mit seiner Regierung gewählt. Auch Gaidar sagte, sie alle habe es überrascht. Dennoch sieht der ungeliebte Reformer keinen Grund zur Panik: „Ich sehe keinen Grund, die Situation zu dramatisieren. Ich weiß nicht, warum dies als eine Verfassungskrise angesehen werden sollte.“ Trotzdem konzedierte Gaidar: „Ich glaube, Jelzin hat einen sehr verantwortlichen, aber auch riskanten Schritt unternommen.“ Die Aktion des Präsidenten stieß auch im Lager der Wohlmeinenden nicht auf ungeteilten Zuspruch.

Es ist ein Vabanquespiel. Läuft es, wie geplant, hätte sich Jelzin tatsächlich eines Gegners entledigt, der vornehmlich stört und ein paralleles Machtzentrum etabliert. Eine der wesentlichen Schwierigkeiten bei der Implementierung der Reformen sind die mannigfaltigen Parallelkräfte, die es alle nach Mitsprache oder gar Macht dürstet. Vom Parlament über den Sicherheitsrat bis hin in die Entourage des Vizepräsidenten.

Sollte es doch zum Referendum kommen, dann lassen sich die nötigen eine Million Unterschriften aus der Bevölkerung binnen kurzem sammeln. Das Referendum selbst stellt also kein Problem dar. Nur müßten anschließend auch Neuwahlen abgehalten werden. Jelzin kündigte gestern an, seine Partei werde jetzt die Arbeit aufnehmen. Während eines anschließenden Fabrikbesuchs ermutigte er die Arbeiter, mit der Unterschriftensammlung zu beginnen. Der radikaldemokratische Abgeordnete Schabada hegte allerdings Zweifel, ob die Demokraten bei Neuwahlen ausreichend Zuspruch erwarten könnten. „Vielleicht“, argwöhnte er, würden die alten Leute, die noch auf ihren Plätzen in der Provinz sitzen, erneut einen Durchmarsch machen.

Während des gestrigen Treibens verließ das Chamäleon Chasbulatow schmollend das Podium des Kongresses und stellte seinen Rücktritt zur Wahl. Doch der Kongreß stimmte nicht ab. Wie könnte er sich auch von seiner Domina selbst trennen. Eine halbe Stunde hielt er es lebergelb an der Seite des Ersatzsprechers aus, um sich dann von seinen Kollegen zur Rückkehr geradezu nötigen zu lassen. Man kennt dieses zierende Verhalten schon von Lukjanow, dem ehemaligen Vorsitzenden des UdSSR-Kongresses, der sich wegen seiner Putschbeteiligung 91 noch in Haft befindet. Chasbulatow schlug sofort zurück und dachte offen über ein Impeachment gegen den Präsidenten nach: „Jede Person, die die Verfassung verletzt, muß von seinem Posten entfernt werden.“

Nicht nur Jelzins Rede, auch die Frage, die im Referendum gestellt werden sollte, war äußerst unklug: „Welche Politik unterstützen die Bürger Rußlands – die Politik des Präsidenten, die Politik der Reform oder die Politik des Kongresses, des Parlaments und seines Vorsitzenden, eine Politik des Endes der Reformen?“ Zu sehr konzentriert sich das wording auf den Präsidenten. Am Nachmittag meldete sich der Oberste Richter des Verfassungsgerichtes, Sorokin, zu Wort: Er verlangte, Chasbulatow und Jelzin sollten sich noch einmal zu einem Kompromiß zusammenraufen. Erst danach könnte der wWg zu einer Volksabstimmung geöffnet werden.

Aufgebracht, wie der Kongreß war, zitierte er den kranken Verteidigungsminister Pawel Gratschow aus dem Hospital ins Hohe Haus. Gorbatschow gab zu verstehen: „Wir werden die Armee nicht hineinziehen lassen, um politische Schlachten zu lösen. Die Lage in der Armee ist normal und unter Kontrolle.“ Schließlich hätte sie im letzten Jahr einen großen Fehler gemacht, als sie sich in den Putsch verwickeln ließ. Man habe daraus gelernt.

Der ehemalige Flieger Rutskoi wandte sich an die Sicherheitsorgane, Schritte einzuleiten, um Demonstrationen und Unruhen zu verhindern. Auf den Straßen ist es ruhig. Das Gerede von sozialer Unrast gehört zum stetigen Repertoire des etwas einfältigen Vizepräsidenten. Oft wurde er als ein möglicher Nachfolger Gaidars gehandelt, obwohl er in Afghanistan schon zwei Bruchlandungen hinter sich hat.

Der Vorsitzende der Demokratischen Partei, Trawkin, der zum Bündnis der Bürgerunion gehört, wertete die Vorgänge als eine „Normalisierung“ des politischen Prozesses in Rußland. Gorbatschow sei ein Übergangspräsident gewesen, so auch Jelzin. Für ihn schien Jelzins Rücktritt immanent.

Hier herrscht Wunschdenken vor. Denn noch ist der Präsident nicht am Ende. Er hätte auch ohne die Zustimmung der Legislative drei Monate mit seinem bisherigen Kabinett weiterarbeiten können. Der Opposition fehlen nicht nur Ideen, sondern auch Köpfe. Ansonsten hätte sie den Kongreß nutzen können, um sich als eine Alternative vorzustellen.

Weder ein ökonomisches Programm, das mehr als Interessenpolitik widerspiegelte, noch eine Persönlichkeit hat sich dagegen hervorgetan. Im Gegenteil, sie hat eher gezeigt, wie wenig Courage sie besitzt, um Verantwortung für den Umbau Rußlands zu übernehmen. Darauf wies auch Jelzin in seiner Rede hin. Zu Recht. Dennoch wäre Jelzin sicherer gefahren, wenn er die Polarisierung nicht auf so krude Weise vorangetrieben hätte.