Der Leukämie-Reaktor muß vom Netz

■ Erbgutschädigung bei Elbmarsch-Bewohnern höher als bisher bekannt / Rauschte Krümmel 1987 knappam Supergau vorbei?

1987 knapp am Supergau vorbei?

Nach einwöchiger Untersuchung des Druckbehälterbodens ist der Siedewasserreaktor Krümmel zwar seit gestern wieder am Netz, der Protest gegen seinen Betrieb aber geht weiter. „Der Atommeiler muß sofort wieder abgeschaltet werden“, fordert Eugen Prinz, Sprecher der Bürgerinitiative gegen Leukämie in der Elbmarsch. Nach eineinhalb Jahren Ursachenforschung gäbe es deutliche Hinweise dafür, daß „Radioaktivität aus Krümmel die Hauptursache für die erhöhte Blutkrebsrate in der Elbmarsch verantwortlich ist“. Solange die Untersuchungen nicht abgeschlossen seien, sei „der Betrieb des Reaktors unverantwortlich“.

Denn seit einigen Tagen ist klar: Die Anzahl der strahlengeschädigten Chromosomen der in der Elbmarsch lebenden Menschen ist vermutlich deutlich höher, als es das Niedersächsische Sozialministerium bislang zugegeben hat.

Im Frühjahr 1992 hatte die Bremer Physik-Professorin Inge Schmitz-Feuerhake bei 5 Elternteilen der an Leukämie erkrankten Kindern Chromosomenanalysen durchgeführt. Das Ergebnis erfuhr die öffentlichkeit nur in korrigierter Fassung. So wiesen die Proben der Untersuchten mit 1,7 „dizentrischen Chromosomen“ pro 1000 Zellen zwar eine erhöhte Veränderungsrate auf (normal sind 0,4 pro 1000 Zellen), die aber lag knapp unterhalb der Schwelle, ab der der Befund als bedeutsame Abweichung von der Norm gewertet wird.

Erst Anfang Dezember wiesen zwei Mitarbeiterinnen der Bremer Wissenschaftlerin darauf hin, daß die von ihnen ermittelte Zahl der geschädigten Erbgutträger doppelt so hoch lag wie die später der Öffentlichkeit mitgeteilten Werte. Der Grund: Der Essener Strahlen- Experte Prof. Obe hatte den Befund gegengechecket, die Zahlen nach unten korrigiert. Heiko Ziggel, Mitarbeiter von Schmitz-Feuerhake: „Dabei hat sich Obe einer völlig unwissenschaftlichen Methode bedient“.

Neben der Abschaltung von Krümmel fordert die Bürgerinitiative, den Atomexperten des Darmstädter Öko-Instituts Einsicht in die internen Betriebsunterlagen des Reaktors zu gewähren. Denn die in der Nähe des AKWs untersuchten Baumscheiben weisen auf eine erhöhte Strahlenbelastung der Gegend in den Jahren 1986 bis 1988 hin, die nicht im Zusammenhang mit Tschernobyl steht. Ob diese durch eine Leckage im Reaktormantel oder durch einen bislang verheimlichten Störfall in Krümmel verursacht wurde, könnte – wenn überhaupt – nur durch solch eine Prüfung geklärt werden.

Möglicherweise rührt die erhöhte Strahlenbelastung von einem Störfall in Krümmel her, der der Öffentlichkeit bislang kaum bekannt wurde, fast aber zur Kata-

1strophe geführt wurde. Am 24. 7. 1987 viel durch einen Bedienungsfehler die Speisewasserförderung aus, die den Reaktorkern kühlt. Es kam zur Notabschaltung des Kraftwerks. „Hätten auch noch die Notkühlsysteme versagt, wäre ein Super-Gau unvermeidlich gewesen“, weiß Atom-Experte Christian Küppers vom Öko-Institut Darmstadt.

1In den Tagen nach der Fast-Katastrophe füllte sich die Praxis des Gesthachter Arztes Dr. Martin Brenner mit Patienten, die über Sonnenbrand und Hautreizungen klagten. Brenner: „Dabei ist es die ganze Zeit bewölkt gewesen“. Inzwischen weiß der Praktische Arzt, daß eine Überdosis der radioaktiven Beta-Strahlung genau zu den

1Symptomen führt, die er bei seinen Patienten beobachtet hat. Die zuständigen Aufsichtsbehörden teilten später mit, es wäre zu keiner Erhöhung der Strahlenbelastung gekommen. Doch die Ursachen für den kollektiven Frühlings-„Sonnenbrand“ in der Elbmarsch konnten nie ermittelt werden.

Marco Carini