Ortsbesichtigung: Straßenstrich

■ Marktwirtschaft: Seit es auf dem Straßenstrich an der Oranienburger Straße zu viele Anbieterinnen gibt, müssen die Huren nach neuen Arbeitsplätzen suchen

Die Oranienburger Straße ist dicht. Mit Einbruch der Dunkelheit stehen die Huren am Straßenrand, der Autoverkehr wird zähflüssig. Selten nimmt das jemand übel, alle sind immer wieder fasziniert und starren neugierig aus den Autos. Selbstbewußt, auf langen staksigen Beinen treten die Frauen in der Kälte den Boden. Dreißig bis vierzig Damen gehören zur Stammbelegschaft, fünfzehn bis zwanzig schaffen allabendlich an – es ist eine einfache Rechenaufgabe, herauszufinden, daß die Frauen hier nur noch Teilzeit arbeiten können und neue Frauen nicht gerade willkommen sind.

Diese Tatsache bringt die Zuhälter zum Rotieren – es müssen Arbeitsplätze geschaffen werden. Da im östlichen Teil Berlins noch vieles möglich und etliches im Entstehen ist, guckten sich die Herren einige Stellen aus, probierten da und dort eine Weile und entschieden sich Mitte September für ein längerfristiges Experiment in der Schönefelder Gartenstraße und der Friedrichshainer Kynaststraße. Seitdem zählt Abschnittsleiter Kufka von der Polizeidirektion Friedrichshain die Betreuung eines Strichs zu seinem täglichen Aufgabenrepertoire. Er ist nicht eben glücklich über die recht adretten Farbtupfer in diesem ansonsten so öden Indutriegebiet. Die Bezeichnung „tolerant“ für seine Einstellung zu den Frauen weist er weit von sich und stellt bloß sachlich fest, daß Prostitution nicht verboten ist. Für ihn bedeutet das Dienst nach Vorschrift mit regelmäßigen Streifenfahrten, Kontrollen und der Aufnahme von Personalien der dort arbeitenden Frauen. „Das ist alles, was wir tun können“, gibt er zu bedenken, und mehr mußte bislang auch nicht getan werden. Wünschen würde Kufka jedoch, daß über Nacht verschwindet, was über Nacht gekommen ist: „Es gibt doch schon genügend Ecken. Prostitution muß sich doch nicht überall ausbreiten.“ Noch mehr Magenschmerzen bereitet ihm die Vision, daß sich der Kynast-Strich in die Nähe von Wohngebieten verlagern könnte oder sich gar zum Drogenstrich entwickelt.

Momentan sind diese Sorgen jedoch unbegründet. Die drei bis vier Frauen, die hier täglich arbeiten, entsprechen dem gepflegten Niveau, das die Oranienburger Straße vorgibt. Auch die Preise orientieren sich daran: Im Auto sind es 50 DM französisch und 80 DM Verkehr, in der Pension 130 DM französisch und 230 DM Verkehr. Ausziehen oben und Ausziehen unten, jeweils 50 DM, lassen eine komplette Nummer 330 DM kosten, was manchen Freier mit den Ohren schlackern läßt.

Den Friedrichshainer Streifenpolizisten ist es bislang noch nicht aufgefallen, daß nächtens in der Stralauer Allee, Ecken Markgrafendamm, eine Anhäufung mehrerer Limousinen zu beobachten ist. Während den Zuhältern in der Oranienburger Straße ein standesgemäßes Spielcasino zur Verfügung steht, müssen die Friedrichshainer Jungluden noch mit der ostcharmanten Gaststätte „Spreebrücke“ vorliebnehmen. Ihre Kampfhündchen sind dort den spitzen Wurfpfeilen der spiellustigen Gäste ausgesetzt. Man ist eben nicht gänzlich unter sich, ist noch nicht richtig etabliert.

In Schönefeld wurde gar nicht erst der Versuch unternommen, sich in einem Lokal niederzulassen. Im Gegenteil: Als der Inhaber des Café „Croco“ auch von der Prostitution profitieren und den Damen und Herren sein Haus für den Aufenthalt empfehlen wollte, wurde er mit dem Hinweis, „daß sich dies nicht mit der Struktur des Geschäfts vereinbaren lasse“, abgewiesen. Das könnte der Wahrheit entsprechen, denn die Schönefelder Zuhälter widmen sich kontinuierlich dem Schutz ihrer Frauen und erbringen ihre hochbezahlte Dienstleistung. Das wäre sicher nicht möglich, wenn sie zockend in einem Lokal säßen. So veranlaßten die Zuhälter zum Beispiel einige polizeiliche Anzeigen wegen Nötigung und Belästigung gegen Bürger, die offensichtlich der Meinung anhingen, Huren wären Menschen zweiter Klasse und bei solchen Frauen könne man seine angestaute Alltagsfrustration loswerden. Um nicht noch mehr Unruhe zu stiften, bedienen die Frauen ihre Kunden fern jeder Öffentlichkeit für 80 bis 140 DM diskret im Wohnwagen.

Die vor Menschen überquellenden Kneipen in der Oranienburger Straße zeigen, daß es eine Verbindung zwischen Prostitution und Vergnügungseinrichtungen geben kann und sollte. Wie Hans Ostwald bereits 1911 erkannte, bringen die Vergnügungsviertel den Prostituierten die Kundschaft, und die hübsch anzusehenden Prostituierten bescheren den Kneipen die schaulustigen Gäste: „Die Prostitution wird sich immer dahin ziehen, wo Leben und Glanz ist, wo leichter Verdienst winkt und wo der Straßentrubel nicht zu sehr den einzelnen in die Erscheinung treten läßt.“ (Hans Ostwald, 1911)

Für die Kynast- und die Gartenstraße ist die Vorstellung von solch einer Symbiose noch Zukunftsmusik. Unklar ist, ob sich in diesen Gebieten jemals Hotels, Kneipen, Diskotheken, Kinos etc. ansiedeln werden. Beide Straßen haben nicht die traditionellen Wurzeln in der Prostitution, die der Oranienburger Straße den Start sehr erleichtert haben. Sie sind bloß Durchgangs- und wichtige Verbindungsstraßen in andere Stadtteile Berlins und bieten potentiellen Kunden die unauffällige Möglichkeit, immer mal wieder vorbeizukommen. Über Weiterexistenz oder Verlegung dieser Striche in andere Ecken der Stadt wird die Marktwirtschaft entscheiden: Es muß sich rechnen. Eike Berg