Ups & Downs in Seattle

Fliegende Fische zwischen Jimi Hendrix und Nirvana. Seattle hat sich zum Geheimtip gemausert.  ■ Von Wilfried Geipert

Die beiden Liftgirls der Space- Needle sahen aus wie Zwillinge. Sie trugen dunkle glatte lange Haare und weiße Blusen zur eleganten blauen Uniform. Sie waren blendend gelaunt, sehr beredt und unterschieden sich eigentlich nur darin, daß die eine uns hoch und die andere uns runter geleitete. Während herkömmliche Liftboys und -girls ihre Gäste entmühen, auf einer Klaviatur von Knöpfen den richtigen zu finden, walten „Up“ und „Down“ über ein simples Tastenarrangement für lediglich drei Stationen: die Besucherplattform ganz oben, das Restaurant auf halber Höhe und der Ein- oder Ausgang im Parterre. Über ihre Qualifikation sagt das nichts.

Die Space-Needle ist das Wahrzeichen von Seattle, der Stadt, die im Ruf steht, die am schnellsten zu besichtigende der USA zu sein. Der zur Expo 1962 erbaute Turm sieht so schrecklich futuristisch, wie sein Name vermuten läßt, gar nicht aus. Er ist von drei Stahlstreben umrahmt, die knapp über der Mitte symmetrisch zusammenlaufen, dann auseinanderdriften und stützend an die obere Plattform stoßen – vor dreißig Jahren mag das atemberaubend gewesen sein.

„Hi folks“, grüßt Up und erzählt in wenigen Worten, wie alt und wie hoch der Turm ist und wer ihn warum gebaut hat. Up will wissen, woher wir kommen, und als sie Germany vernimmt („Great!“), auch aus welcher Stadt. „So nobody from S-tutt-gart?“ schafft Up noch zu fragen, bevor wir am Restaurant halten. Ein Pärchen will raus, Up empfiehlt die Fischkarte.

Seattle gilt als Eldorado für Feinschmecker. Seattles Spezialität, den Lachs, kann man am Pike Place Market so verpacken lassen, daß er nach 48 Stunden auch in Deutschland noch schmeckt. Die City-Seele bietet alles, was durch Kiemen atmet und aus der Erde sprießt. In der dreistöckigen Markthalle dürfen nur einfache Produzenten verkaufen. Unentwegt brüllen hier die Verkäufer auf die Passanten ein. „I got a big, big, big fish“, ruft der Seller, wenn ein Kunde angebissen hat, „He's got a big, big, big fish“, raunt die Theken-Crew dunkel zurück wie ein griechischer Tragödienchor. Dann rauscht aus sechs, sieben Metern ein kiloschwerer Brocken am Schild „Vorsicht: fliegende Fische!“ vorbei durch die Luft und wird in bester Baseballpose hinter der Theke gecatcht. Applaus. Der Markt wurde 1907 aus Protest gegen preistreibenden Zwischenhandel gegründet, eine Bürgerinitiative bewahrte ihn 1970 vor dem Abriß.

S-tutt-gart. Aus Stuttgart kam keiner, selbst Up kennt die Stadt nur aus ihren Unterlagen. Die Company und der Lord Mayor seien damals, in den Fünfzigern, dort gewesen, um sich Ideen für ein wirklich typisches Stadtwahrzeichen zu holen. Der „S-tutt-gart- Tower“ am Killesberg sei das Vorbild für die Needle. So mir nichts, dir nichts kommt man nicht auf Stuttgart.

Während im Fenster des außengeleiteten Lifts die Bay-Landschaft erscheint, freut sich Up über unser außerordentliches Glück, einen so was von sonnigen Tag erwischt zu haben. „The Mountain is out!“ strahlt sie, nicht zu fassen, der mächtige Mount Rainier sei heute zu sehen. „The Mountain is out“, hieß es an fast allen Tagen. Es ist eine Marotte der Seattleites, jeden Sonnentag als verhinderten Regentag zu feiern.

Oben von der Plattform sehen wir den pummeligen Hausberg, der wie ein Schokopudding mit Puderkappe hinter der City thront. Gegen den Viereinhalbtausender müht sich die Skyline vergeblich um Größe. Doch die Seattleites arbeiten daran, wie die vielen Baustellen in der City zeigen. Im Hafen unten werden Frachtschiffe umgeschlagen, außer Sicht bleiben die Boeing-Werke, die zweite Wirtschaftssäule der Stadt. Der Firma ist man in diesen Tagen gram, weil sie Longacre, die traditionsreiche Pferderennbahn, aufkaufte, um einen Verwaltungstrakt zu schaffen. Seattle prosperiert, und gegen das Arbeitsplatzargument können im rezessionsgeplagten Amerika auch die Zocker nicht an. Derweil schnellen die Grundstückspreise in die Höhe, immer mehr Amerikaner siedeln in den Nordwesten, allen voran die ungeliebten Kalifornier.

Die Metropole nahe der Grenze zu Kanada zählt eine halbe Million Einwohner und wurde wiederholt – auch in diesem Jahr – zur lebenswertesten Stadt der USA gekürt. Ein Blick auf die fingrig greifende Wasserlandschaft stützt diese Wahl: grüne Hügel betten den Washington Bay ein, dessen Ufer von Hausbooten, Wohlstandsvillen und tausendundeiner Yacht belagert werden.

Wer nach Seattle kommt, braucht sich zwar keine Blumen ins Haar zu flechten, in vielem aber ähnelt die Stadt am Puget Sund dem Lifestyle-Mekka San Francisco. Sie erstreckt sich über sechs Hügel, die Straßen und Boulevards schlängeln sich bergauf und -ab, und längs des Ufers rattert, den Cable Cars gleich, aber kostenlos, eine historische Bimmelbahn ins moderne Zentrum mit Einkaufszentren und Kaffeehäusern. Es gibt eine ausgeprägte Kulturszene in der Stadt, hervorragende Theater, Museen, und oben in Capitol Hill liegt, Berkeleys Telegraph Avenue ähnlich, der Broadway, ein flippiger Straßenzug, mit Bars und Jazzkneipen, Cafés und Buchläden und einer Uni in der Nähe. Die Seattleites sind Trendsetter – nicht erst seit dem Erfolg der Grunge-Band „Nirvana“ –, und sie gelten als die belesensten Amerikaner. Folgt man der Auslage des „Broadway Bookshop“, so verschlingen sie zu einem Viertel Literatur aus der Schwulen- und Lesbenszene und zur Hälfte Ich und mein Body. Die Extreme des amerikanischen Körperkults lassen sich sehr schön vor und nach Feierabend beobachten, wenn auf der Promenade des Pioneer Square hagere Jogger und gehsteigbreite Übergewichte einander auszuweichen suchen.

„There must be some way out of here“, sang Seattles Berühmtester, als die Stadt noch ein Provinznest war. Jimi Hendrix, Mischling der schwarzen und indianischen Minderheit, liegt im Vorort Renton begraben. Im abgelegenen Woodland Zoo errichtete der Rocksender KZOK ein symbolhaftes Memorial für den Rockstar: sechs Felsen (Rocks), umgeben von Purple- Sträuchern (Purple Haze) und einer flammenzüngelnden Sonne im Pflaster. Ehrhafte Bürger haben die Aufstellung des Memo-Sets in einem öffentlichen Park verhindert, der Zoodirektor, ein Jimi- Fan, fand die Lösung. Niemand beachtet die Anlage am Samstag morgen, nur ein paar Schulkinder versuchen, den Text der in den Fels gefaßten Widmung zu entziffern.

Am kleinen Jean-Bernard hätte Hendrix seine Freude gehabt. Der schwarzlockige Matz springt, „Afrika, Afrika“ rufend, Jimis Felsen rauf und runter und mißfällt damit seiner strengen Lehrerin. Während die Mitschüler sich händchenhaltend zum Weitergehen aufreihen, muß der Kleine – „You come with me!“ – an die Hand der Lehrerin. Zucht und Ordnung scheinen hier ein Basistheorem der Lehrerausbildung. Wunderlich viele der Schulklassen tapsen diszipliniert wie ihre Altersgenossen in Japan durchs Gehege – der Jean- Bernardismus hielt sich in Grenzen. Vielleicht ist die harte Schule ein Garant späterer Aufmüpfigkeit. Seattle gilt als eher fortschrittlich und war über Jahre ein Kleinbonum des Widerstands gegen Washingtons Nicaragua-Politik.

Selbst die Bedienung der „Taverne M 318“ ist nicht unbedingt unpolitisch. Die hagere Mitfünfzigerin, die sich gut in Lockenwicklern vorstellen läßt, verflucht Rauchverbote als republikanische Grundübel: „This is a free country, ya betcha!“ Die Dame serviert in Seattles berühmtester Burger- Bude turmhohe Mehrfachwhopper für fünf Dollar das Stück. Eine Musikbox mit Countryschlagseite, zwei Billardtische und eine vollbesetzte Theke, hinter der der Sportkanal heißläuft: das urige Lokal nahe der Fremont Bridge erhielt schon mehrfach den „Basket“, die Trophäe für die besten Hamburger der Stadt. Auf der Gegenseite der Ziehbrücke harren fünf Menschen und ein Hund regungslos an einer Bushaltestelle. „Waiting For The Interurban“, heißt die populäre Skulptur des Bildhauers Richard Beyer. Sie erregte bei der Enthüllung 1978 Aufsehen, weil der Künstler den damaligen Bürgermeister in der Visage des Hundes verewigte.

Sie nennen sich Seattleites und kokettieren mit dem schlechten Wetter. Down macht da keine Ausnahme. „Vergessen Sie nicht, zu Hause zu erzählen, daß es ununterbrochen regnet in Seattle“, gibt sie uns mit auf den Weg. Das Thema begegnet uns auf Schirmen und T-Shirts mit Aufdrucken wie „The Rain Of Spain will Mainly Fall in Seattle“ oder „Seattle Rain Festival 1.1. bis 31.12.“ Und literarisch verbrämt sogar in guten Büchern: „Es gibt kein Weinen, das es mit dem Regen des Nordwestens aufnehmen könnte“, schreibt Tom Robbins im „Buntspecht“, und: „Falls die Liebe in Seattle zu bleiben gedenkt, tut sie besser daran, sich auf nasse Füße gefaßt zu machen.“ Alles Lüge, by the way.