■ Aus polnischer Sicht: „Russische Garnisonsstadt“
Gemeint ist Warschau. Andrzej Szczypiorski sieht die Russen jederzeit wieder in Warschau einmarschieren und warnt die eigenen Landsleute, Rußland, das nahe und mächtige Imperium, zu vergessen.
Auch ich spreche von einer „russischen Garnisonsstadt“. Aber aus anderen Gründen. Vor allem, weil die Warschauer die ganze Zeit so tun, als seien die russischen Panzer um die Ecke, aber auch, weil die Stadt tatsächlich von Russen besetzt gehalten wird: von den Händlern, von den Gangstern, von den Schwarzarbeitern. Die Warschauer dulden und behandeln sie so, als hätten sie mit eigenen Landsleuten in Krieg und Not zu tun. Trotz Gestank und Schmutz, die sie nach den Schwierigkeiten der langen Anreise oft begleiten, werden sie barmherzig akzeptiert, man macht mit ihnen Geschäfte, beschäftigt sie an den Baustellen und auch sonst überall – als Musiker, Ärzte, Sportler. Diese Stadt hat die schreckliche Erfahrung des Leidens nicht vergessen, und auch heute geht es den meisten nicht viel besser als den Ostslawen. Also sieht niemand einen Anlaß, sich über sie zu erheben und mit Haß und Aggression auf sie loszugehen.
Eine russische Garnisonsstadt war Warschau mehr als zwei Jahrhunderte lang gewesen (mit unerheblichen Unterbrechungen für die – im historischen Maßstab – Stippvisiten des anderen befreundeten Nachbarn). Sichtbar sind vor allem zwei Beweise: der Kultur- und Wissenschaftspalast namens „Josef Stalin“, wie ein Galgenpfahl ins Herz der Stadt gehauen, und die größte Botschaftsanlage der Stadt, bestens geeignet, über das ganze Weichselland zu regieren. Wenn man sich die Geschichte des Moskauer Sowjetpalastwettbewerbes (Ausstellung in der Berlinischen Galerie) anschaut, kann man verstehen, welche Art Vergewaltigung der Stadtstruktur ein derartiges Unternehmen darstellen kann.
In Moskau hat man zwar den Palast nicht zu Ende gebaut, jedoch die wichtigste Kathedrale Rußlands zum Zweck der Platzgewinnung zerstört. Die dekonstruktivistische Arbeit haben in Warschau die Kulturaktivisten aus dem Westen durchgeführt, die traditionellen Verbündeten Rußlands im Teilen und Quälen der Polaken. Auf den Trümmern entstand dann dieser Palast, ein Ding, mit dem man drei Jahrzehnte leben mußte und in dessen Innerem sich auch ganz vernünftige Sachen befanden: zwei Theater, eine Kongreßhalle, Kinos, Büroräume.
Heute ist man, nach einem internationalen Wettbewerb, zum Schluß gekommen: Der Palast soll bleiben, aber durch eine neue Umgebung in seinem Maßstab und Solitärcharakter relativiert werden.
Das Chaos und die Häßlichkeit der Stadt werden bislang kaum durch die Insel des – privaten – Luxus relativiert, weil sie unmittelbar an – kommunale – Armut und Zerfall grenzen. Ein echter Boom ist nicht in Sicht, und ähnlich, wie man schon seit mehreren Jahrzehnten eine U-Bahn baut, die relativ noch gar nicht da ist, wird es sehr lange brauchen, bis die Stadt eine neue Mitte bekommt; einige Jahrzehnte des Elends und Drecks wird es noch dauern mit dem ekelhaften Zentralbahnhof und dem Zuckerbäckerpalast, den zu hassen niemand mehr die Kraft hat. Pjotr Olszowka
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen