■ Zur Situation der Stahlindustrie
: Schrumpfen ohne Solidarität

Die letzten Jahre hat die europäische Stahlindustrie glänzend verdient. Ganz finster sah es in Deutschland noch zur Jahreswende 1987/88 aus. Unter dem Druck der roten Zahlen und der vermeintlichen Überkapazitäten wollte etwa Krupp damals das Stahlwerk in Rheinhausen gleich ganz stillegen. Es kam anders. Die Stahlbranche boomte. Stahlkocher, die eben noch als überflüssig galten, mußten ab Mitte 1988 nicht nur in Rheinhausen Woche für Woche Überstunden leisten. Ein von niemandem vorhergesagter, scheinbar rätselhafter Aufstieg — wie Phönix aus der Asche.

Wird sich die akute Stahlkrise, die mit dem Vergleichsantrag von Klöckner, dem schwächsten der westdeutschen Stahlkonzerne, eine dramatische Zusspitzung erfahren hat, jetzt wieder nach dem gleichen Ablauf verflüchtigen? Die Stahlindustrie gehört zu den stark zyklisch reagierenden Branchen und hängt in äußerst sensibler Form vom Wachstum des Bruttosozialprodukts (BSP) ab. Kleine Schwankungen beim BSP bewirken relativ hohe Ausschläge bei der Stahlnachfrage.

Das gilt auch für die Ertragslage: Profite steigen während des Booms überproportional, Verluste in der Baisse jedoch auch. Die Frage ist, ob die derzeitige Krise mehr anzeigt als das in der kapitalistischen Marktwirtschaft unvermeidliche konjunkturelle Auf und Ab. Nach Auffassung des Essener Wirtschaftsforschungsinstituts RWI handelt es sich lediglich um ein konjunkturelles Problem. Die Stahlbarone aber sprechen von einer Überkapazitätskrise. Europaweit gibt es ihrer Auffassung nach rund 25 Millionen Tonnen Rohstahlkapazität zuviel. Der europäische Dachverband der Stahlindustriellen, Eurofer, hat bei der EG-Kommission deshalb ein sogenanntes „Strukturbereinigungskartell“ beantragt. Ziel ist, den Markt auszuschalten und statt dessen die Schrumpfung über Abwrackprämien, Sozialpläne und Modernisierungshilfen mit Staatsknete abzufedern. Am Ende würden vierzig- bis fünfzigtausend Stahlarbeiter weniger in Westeuropa Stahl kochen.

Vom Prinzip her teilt auch die IG-Metall diesen Ansatz der sozialverträglichen Schrumpfung. An den einzelnen Standorten gerät die Gewerkschaft aber regelmäßig ins Schleudern, weil die Betriebsräte und Belegschaften überall überflüssige Kapazitäten abbauen wollen – nur nicht in der eigenen Bude. Das von einigen Gewerkschaftern proklamierte Ziel einer regional ausgewogenen „solidarischen Schrumpfung“ bleibt deshalb ein Traum. Am Ende siegt – siehe Klöckner – allein der Stärkere. Die anderen Stahlbelegschaften verharren dabei – trotz aller verbalen Solidaritätsappelle – in der Pose des Zuschauers. Weil der Tod des einen den eigenen Arbeitsplatz sicherer macht, fällt Solidarität so schwer. Walter Jakobs