Schulgeschichte und Geschichte

■ „Insel der Geborgenheit“ – Private Waldschule im nationalsozialistischen Berlin

Wer sich heute auf die Suche nach den Orten begibt, an denen die Private Waldschule Kaliski zwischen 1932 und 1939 existiert hat, der trifft zum Beispiel auf eine Ausbildungsstätte für Logopäden, die Berliner Niederlassung der Friedrich-Naumann-Stiftung oder das Casino des Mommsenstadions. Keine Gedenktafel erinnert an diese Schule, die von der frisch examinierten jüdischen Lehrerin Lotte Kaliski gegründet wurde und sich zunächst nicht als eine spezifisch „jüdische“ Schule begriff. Das Profil der Schule (Freiluftklassen, Schulgarten, Koedukation, Ganztagsschule) sollte bürgerlich- liberale Kreise ansprechen.

Das Unternehmen „Private Waldschule Kaliski“ entwickelte sich jedoch nach 1933 aufgrund der Verdrängung jüdischer Schüler aus dem öffentlichen Bildungswesen zu einer besonderen jüdischen Institution in Berlin. Eine Forschergruppe der Universität Oldenburg hat die Geschichte dieser Schule zwischen 1932 und 1939 genau rekonstruiert und unter dem Titel „Insel der Geborgenheit“ bei Metzler veröffentlicht.

Hier wird erkennbar, wie die Schule die Anforderungen ihrer jüdischen Schüler — Sicherung der Schulausbildung in einer feindlichen Umwelt, Ausbildung einer jüdischen Identität als Selbstschutz, Bewahrung der Tradition der Aufklärung, praktische Vorbereitung auf die Emigration — aufnimmt und ihren geringen Handlungsspielraum gegenüber der Schulbürokratie nutzt, um dieses „himmlische Ghetto“ lange zu erhalten.

Der Kampf um die Erhaltung der Schule, auf der Suche nach einem dauerhaften Standort, wird von den Verfassern als Akt der „Resistenz“ beschrieben: Es ging nicht nur um die Auseinandersetzung mit Vertretern der staatlichen Behörden, sondern vor allem auch mit Anwohnern der Berliner Villenbezirke, die nicht einsahen, „warum die jüdischen Privatschulen ausgerechnet in diesen bevorzugten Wohngegenden errichtet werden sollen“.

Das Buch vermittelt nicht nur einen Einblick in den Überlebenskampf einer jüdischen Schule im Nationalsozialismus, sondern auch in die Lebensläufe der Lehrer und der Schüler. Die Biographien der Gründerin Lotte Kaliski und ihres ersten Schulleiters Heinrich Selver führen den Leser zurück bis in die Zeit vor den Ersten Weltkrieg und zeigen typische Lebenswege jüdischer Intellektueller zwischen Assimilationswillen und gesellschaftlicher Ausgrenzung.

So überzeugend die Verfasser am Mikrokosmos „Private Waldschule Kaliski“ das Funktionieren des nationalsozialistischen Herrschaftsapparats in der Institution Schule beschreiben und damit weit über das im Titel angekündigte Themenspektrum hinausgehen, so problematisch ist der Versuch einer abschließenden Einschätzung des „Erfolgs“ der Schule. Hier werden die sonst dominierenden qualitativen Verfahren verlassen, und es wird aufgerechnet: „Von den jüdischen Kindern der Jahrgänge 1919 bis 1932, also der Jahrgänge, aus denen auch die Schüler der Kaliski-Schule stammten, haben mindestens 82 Prozent das Nazi-Regime überlebt. Von den PriWaKi waren es sogar 93 Prozent! Die Emigrations- und Überlebenschancen der Schülerinnen und Schüler der PriWaKi scheinen also im Vergleich zu den anderen gleichaltrigen jüdischen Schülern im nationalsozialistischen Deutschland noch deutlich besser gewesen zu sein!“ Zwar warnen die Autoren anschließend selbst vor der Überbewertung dieser Zahlen; sie räumen auch ein, man werde bei den Eltern der PriWaKi- Kinder „aufgrund der Zugehörigkeit zur (oft gehobenen) Mittelschicht und einer überdurchschnittlich häufigen akademischen Bildung bessere Möglichkeiten zur Emigration vermuten dürfen als bei einem jüdischen Geschäftsmann aus einer Provinzstadt“. Doch widersprechen die auftrumpfend gesetzten Ausrufezeichen dieser Einschätzung letztlich wieder.

Der Titel „Insel der Geborgenheit“ dürfte mehr Leser abschrecken als anziehen. Auch der Untertitel läßt eher einen Selbstverständigungstext für Lehrer und Schüler der beschriebenen Anstalt vermuten und spricht allenfalls hartgesottene Schulhistoriker an. Das ist bei einem Buch, das Schulgeschichte in gelungener Verknüpfung mit der „großen“ Geschichte erzählt und dabei nicht ins Anekdotische abrutscht, nicht nur werbetechnisch ein Mangel. Ulla Reichelt

H.L. Busemann/M. Daxener/W. Fölling: „Insel der Geborgenheit. Die Private Waldschule Kaliski Berlin 1932 bis 1939“. Stuttgart und Weimar 1992 (Metzler), 48 DM