Der Straßenbahn geht es an den Kragen

■ Grüne und Fahrgastverband „Igeb“ warnen: BVG will Tram-Linien stillegen/ Verkehrssenator hat immer noch kein Straßenbahn-Konzept vorgelegt

Berlin. Erstmals seit der Vereinigung wollen die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) eine Straßenbahnstrecke stillegen. Ab Januar kommenden Jahres soll der Betrieb der Linie 84 (Friedrichshagen, Wasserwerk – Altglienicke) „vorübergehend“ eingestellt werden, weil die Altglienicker Brücke saniert wird.

Die Fraktion Bündnis 90/Grüne und der Berliner Fahrgastverband „Igeb“ behaupten, daß die Stillegung der Linie trotz Bauarbeiten nicht notwendig sei. Besonders zwischen Köpenick und dem S- Bahnhof Adlershof werde die Linie stark genutzt. Die Partei und die Initiative befürchten, daß die zeitweise Einstellung der Linie nur der erste Schritt sei und mit ihm „das Sterben des umwelt- und stadtverträglichsten Verkehrsmittels eingeläutet“ werden soll. Mit der Stillegung einzelner Teilbereiche aber werde dem Straßenbahnnetz vor allem in den Außenbezirken die wirtschaftliche Basis entzogen.

Michael Cramer, verkehrspolitischer Sprecher der Grünen, stützt seine Vermutung, daß die Stillegung in Köpenick „der Startschuß“ sei, auf eine zwei Wochen alte Erklärung der BVG. In dem Schreiben favorisiert das Nahverkehrsunternehmen die U-Bahn als „Massenverkehrsmittel für die Metropole Berlin“. Auch in anderen Ballungszentren wie Paris und London käme der Straßenbahn – ähnlich dem Autobus – die Aufgabe zu, Wohngebiete zu erschließen und Verbindungen zur Schnellbahn herzustellen.

Die Tram übernehme eine Ergänzungs-, aber keine Hauptfunktion, schreibt BVG-Pressesprecher Wolfgang Göbel. Die U-Bahn, die unter der Erde fahre, sei dagegen nicht auf den teuren Verkehrsraum Straße angewiesen, und die für die Untergrundbahn benötigten Tunnel amortisierten sich über einen Zeitraum von 200 Jahren. Während die Straßenbahn in der Stunde in beide Richtungen an die 20.000 Fahrgäste befördern könne, bewältige die U-Bahn mindestens das Doppelte.

Cramer bestreitet nicht, daß die U-Bahn leistungsfähiger ist. Nur koste der Bau eines U-Bahn-Kilometers mit 150 bis 220 Millionen Mark zwanzig- bis dreißigmal soviel wie ein Kilometer Straßenbahn. Und da zur Zeit die Straßenbahn mit 176 Kilometern nur ein Viertel des Tram-, U- und S-Bahn- Netzes ausmache, gehe es gar nicht darum, ob die Straßenbahn Hauptverkehrsmittel werde. Wer in völliger Verkennung der Finanzkraft Berlins heute aber mehr U-Bahn fordere, ohne die durch den Mauerbau geschlagenen Lücken im Nahverkehrsnetz rückgängig gemacht zu haben, so Cramer, zementiere die Spaltung der Stadt mit der Folge, daß das Angebot im öffentlichen Nahverkehr unattraktiver werde.

Der Fahrgastverband „Igeb“ weist auf die Widersprüche zwischen den Absichtserklärungen von Verkehrssenator Herwig Haase (CDU) und der „realen Politik“ hin. Der Senat habe sich zwar zum Ausbau der Tram bekannt, tatsächlich führe der geplante Bau von Tunneln unter dem Regierungsviertel aber dazu, daß die erforderlichen Strecken- und Fahrzeugmodernisierungen der Tram nicht mehr finanziert werden könnten. Das übrigbleibende Minimalprogramm werde in wesentlichen Teilen dann auch noch bewußt von Haases Verwaltung verzögert.

Der Verband erinnert daran, daß das Abgeordnetenhaus zum 29. Februar dieses Jahres von Verkehrssenator Haase ein Straßenbahnkonzept eingefordert hatte, was dieser aber bis heute nicht vorgelegt hat. Dirk Wildt