Auch wenn die Zeichen auf Sturm stehen

Der Ostberliner Soziologe Wolfgang Engler und seine erstaunliche Analyse der DDR-Gesellschaft und des Umbruchs  ■ Ein Interview von Frank Sieren

Die Soziologen haben zu dem, was die Welt heute bewegt, nichts zu sagen“, meinte der Soziologe Karl-Otto Hondrich in der Zeit anläßlich des letzten Soziologentages. Stimmen Sie dem zu?

Wolfgang Engler: Teilweise. Manche Themen, die jetzt besonders brisant sind, wurden zwar nicht verdrängt, wohl aber an den Rand des Interesses westdeutscher Soziologie lanciert: das Problem der Nation etwa oder dasjenige des staatlichen Gewaltmonopols, der affektiven, ganz und gar nicht rationalen Handlungstriebe der Menschen, erste und dritte Welt und anderes mehr. Das sind Probleme, die nicht nur mit unliebsamen Folgen für die Reichtumszentren dieser Erde verknüpft sind, sondern sich auch mit den hergebrachten Methoden, mit Aufklärung und Appellen kaum lösen lassen.

Gleichzeitig ist es falsch, den Soziologen den Vorwurf zu machen, völlig versagt zu haben, die ost-mitteleuropäischen Wenden nicht prognostiziert zu haben. Ebenso falsch ist es auch, Politiker zu schelten, daß sie keine Rezepte bereit halten. Mir scheint das vermessen angesichts eines Epochenumbruches, durch den sich wohl die gesamte bisherige Gestalt der Menschwerdung ändert. Die Zäsur, deren Zeugen wir alle sind, ist so tiefgreifend, daß sie unsere Vorstellungskraft weit übersteigt. Alles, was wir zur Zeit tun, beschränkt sich darauf, ein wenig an der Oberfläche zu kraten.

Ist sich die westdeutsche Soziologie dieser tiefgreifenden Umwälzung überhaupt bewußt?

Vielleicht kann man die Tatsache ihres teilweisen Schweigens oder zögerlichen Antwortens als Indiz dafür werten. Mir scheint es sehr viel redlicher, sich zurückzuhalten, als daherzuschwatzen.

Aber hat sich die westliche Soziologie nicht auch zu sehr in Mikrostrukturen vergraben und dabei gesamtgesellschaftliche Entwicklungen aus den Augen verloren?

Doch, doch. Das kommt hinzu. Das liegt begründet in einer Mentalität nicht nur der Soziologen, sondern der westlichen Menschen überhaupt. Man hatte sich in dem eingerichtet, was Bestand zu haben schien, soweit man es übersehen und denken konnte: erste, zweite und dritte Welt, Teilung Deutschlands usw. Warum auch nicht, man hielt sich an das, was vorhanden war. Kein Grund für einen Schuldvorwurf. Aus dieser Haltung entstanden Konzept-Karrieren wie „Postmoderne“ und „Posthistorie“. Die Wiederkehr der Geschichte, des Ereignisses, hat diese Träume gründlich zerstört. Auch daraus resultiert die momentane Denkverlegenheit.

Was können wir von den wenigen ostdeutschen Soziologen erwarten?

Wenig. Sie sind von Abwicklungsfolgen gebeutelt, in alle Winde zerstreut. Sie sind zu sehr mit der Last und dem Alb der Vergangenheit beschäftigt. Und zu sehr in bestimmte Denkweisen und Routinen eingelebt, um sich davon in dem Tempo freimachen zu können, wie es nötig wäre, um mit den Problemen Schritt zu halten, die Gegenstand des Denkens sein müßten.

Aber Sie persönlich scheinen nicht unter dem Alb zu leiden. Sie haben zwei Bücher vorgelegt und auf dem letzten Soziologentag eines der Hauptreferate gehalten.

Mir selber und einigen anderen geht es vielleicht in diesen Punkten etwas besser, als einer Mehrheit der Kollegen. Der Grund dafür liegt bei mir darin, daß ich während der achtziger Jahre an einer Kunsthochschule lehrte, mich also in einer institutionellen Randstellung im DDR-Wissenschaftssystem befand. Das hatte den Nachteil des mangelnden geistigen Austausches. Aber den großen Vorteil, daß man dem Druck der jeweiligen Obrigkeiten in geringerem Maße ausgesetzt und mehr auf sich selbst gestellt war. So konnte ich mich Ende der siebziger und in den achtziger Jahren geistig neu orientieren, Anschluß suchen an die aktuellen Diskussionen in Westeuropa und Nordamerika. Gewollt oder nicht: Man hatte Zeit zu lesen und zu denken, konnte die fremden Denktraditionen in Ruhe wirken lassen und sie relativ eigensinnig am Mainstream des westlichen Denkens vorbei verarbeiten. Da an Publikationen kaum zu denken war, bestand auch keine Versuchung, seine intellektuelle Ausbildung vor dem Publikum zu machen, öffentlichkeitswirksame Erkenntniseffekte zu inszenieren.

Waren Sie also in dieser Hinsicht unabhängiger in einem repressiven System als in einer Demokratie? Eine Art unfreiwillige Errungenschaft des SED-Staates.

Das kann man so sagen, aber nur für diesen eingegrenzten Fall. Denn viele Freiheiten fehlten. Andererseits gab es außergewöhnliche Denk-Chancen, weil die ideologischen Repressionen nicht mehr richtig funktionierten und der sanfte Druck des Geldes und des Marktes noch nicht funktionierte. In diesem Zwischenreich zwischen „nicht mehr“ und „noch nicht“ war das Denken gut aufgehoben. Man kann die Frage insofern mit ja beantworten, als daß es zwischen diesen beiden Extremen Freiheiten gab, die heute entfallen, wo man sich gut verkaufen und öffentlich im Spiel bleiben muß, um seine Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Die Gefahr mehr zu schreiben, als man wirklich durchdacht hat, ist nicht von der Hand zu weisen.

Sie objektivieren diese Teilfreiheiten, indem Sie schreiben: „Daß man in den ost-mitteleuropäischen Gesellschaften ,frei‘ nicht nur im Sinne von verfügbar für andere war, sondern bis zu einem gewissen Grade für sich selbst war, wurde durch das staatssozialistische Konstruktionsprinzip, das alles Fühlen, Denken und Handeln überwölbte, bis zuletzt verdeckt.“ Haben Sie da nicht Ihre eigene Biographie bzw. die einer kleinen intellektuellen Gruppe zu sehr verallgemeinert?

Das glaube ich nicht. Das ist schon auch die Lebensweise von alltagspraktischen Normalmenschen. Ich kann in diesem Zusammenhang die Gründe nur ganz knapp umreißen. Es geht im Grunde um zwei Sachverhalte. Ich glaube einerseits, daß persönliche Beziehungen zwischen Lebenspartnern, zwischen Eltern und Kindern unbelasteter waren. Im Konflikt und Scheidungsfall mußte man nicht die Regreßforderungen des jeweils anderen strategisch einkalkulieren. Solche Alimentierungsrücksichten spielten im Osten sehr viel weniger in die Beziehung hinein. Ein anderes Beispiel ist die vergleichsweise liberale Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen.

Sind sich die Ostdeutschen denn dieser Freiheit bewußt?

Ich glaube, sie werden sich dessen bewußt. Am Anfang dieses Umbauprozesses waren sie es kaum. Das konnte zunächst auch nicht ihr Hauptproblem sein. Sie hatten andere Ansprüche durchzusetzen. In dem Maß. in dem inzwischen die westdeutschen Regelungen bis in die kapillarischen Verästelungen des Privatlebens hineingreifen, wird vielen klar, wie frei sie davon in der Vergangenheit waren.

Der zweite Fall dieser alltagspraktischen Freiheiten betraf Gestaltungsspielräume, die besonders in der Wirtschaft, aber auch in der Verwaltung auftraten. Gerade jene Menschen, die die Schlußkette der formellen Machtkette bildeten, die Arbeiter, einfachen Angestellten oder rangniedrigeren Aufsichtspersonen, profitierten vom Mangel, vom Chaos der Wirtschafts- und Alltagsbeziehungen ganz erheblich. Sie saßen an den Quellen des sozialen Kreislaufes und wurden so zu Kommandeuren über das Wohl und Wehe des Ganzen. Sie erhoben sich über ihre Funktionen, traten aus ihnen heraus und entschieden ziemlich selbstherrlich und eigennützig, wer was zu welchen Bedingungen bekam. Daraus entwickelte sich ein erstaunlicher Stolz, ein Selbstbewußtsein, mit dem man rechnen sollte.

Das ist ein zweiter, nicht-intellektueller Strang von staatssozialistisch bedingten Handlungschancen, über die die Machthaber nicht gerade glücklich waren.

Das Problem der Wende ist, daß Freizügigkeiten, die das System unfreiwillig hervorgebracht hat, von westlichen Politikern mit dem System identifiziert und mit zu Grabe getragen werden. Es fehlt die Sensibilität und vielleicht auch das Interesse, zu unterscheiden zwischen den zum Teil ungewollten Freiheiten und dem Herrschaftszusammenhang, in dem sie eingebettet, auf den sie aber nicht reduzierbar waren.

Sind solche Freiheiten jetzt nicht wertlos? Lassen sie sich überhaupt in ein anderes System hinüberretten?

Ich weiß nicht, ob das eine ohne das andere funktioniert. Aber man könnte zumindest das Bewußtsein dafür schaffen, daß solche Verhaltenseigenschaften da sind, und daß sich Menschen mit ihnen identifiziert haben. Sie sind nicht bereit, mit dem Untergang der alten Gesellschaft auch das preiszugeben, was sie den Umständen abtrotzten. Es ist nicht günstig für einen Integrationsprozeß, wenn man ihn – sei es bewußtlos, sei es systematisch – auf die Kränkung eines der beiden Teile, der Ostdeutschen gründet. Man sagt ihnen nur, daß sie umlernen müssen, ohne ihnen zugleich zu sagen, woran sie denn anknüpfen können. Das rächt sich, wie man zur Zeit sieht. Die Ostdeutschen zahlen mit gleicher Münze heim. Sie lösen Gewohnheiten und Verhaltenseigenschaften völlig aus der alten Machtordnung heraus und fügen sie zu einem romantischen Bild zusammen, das die bedrückende Vergangenheit beschönigt. Wenn man das öffentliche Bewußtsein über diese Täuschung aufklärt, können beide Seiten etwas lernen: Es bedarf weder einer westlich nivellierenden noch einer östlich romantisierenden Umbaustrategie. Dazwischen einen Weg zu finden, dürfte einer der großen Schwierigkeiten sein.

Glauben Sie, nüchtern betrachtet, daß das wirklich gelingen könnte?

Ich hoffe, daß es gelingt. Denn die Alternative wäre ein Sich- weiter-hochschaukeln der seit der Vereinigung immer größer werdenden wechselseitigen Verhärtungen mit unabsehbaren Folgen.

Wir sprechen über eine „zivilisatorische Lücke“ zwischen zwei Gesellschaften. Das ist der Titel Ihres Buches. Verschärft diese Formulierung nicht noch das Klischee vom besseren Westdeutschen und schlechteren Ostdeutschen?

Manche haben es fälschlicherweise so aufgefaßt. Aber diese Formel über ein zivilisatorisches Defizit in Ost- und Mitteleuropa beschreibt einen sozialen, strukturellen Sachverhalt. Die Menschen im Osten sind nicht schlechter, sondern das autokratische System schlug de facto in ihnen Wurzeln. Die Menschen waren spezifischen Zwangsmechanismen unterworfen. Der für viele westliche Beobachter maßgebliche Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz hat in seinem Bestseller über den „Gefühlsstau“ versucht, sich diesem Sachverhalt zu nähern. Aber er tut dies in einer völlig inadäquaten Weise. Er sagt, im Staatssozialismus gab es Zwänge, nun soll es keine Zwänge mehr geben. Diese These ist zwar attraktiv und war wohl deswegen ebenso erfolgreich wie unfruchtbar. In jeder Gesellschaft, in jedem einigermaßen komplizierten Lebensprozeß, muß man mit bestimmten Zwängen Bekanntschaft schließen, um miteinander auszukommen. In staatssozialistischen Gesellschaften wurden menschliche Selbststeuerungsmechanismen durch Versagung, Verzicht, Beobachtung und Dressur erzwungen. Gleichzeitig wurde dabei ein Affekt gegen zu guter Letzt jede Art von Kontrolle eingepflanzt.

Sie fassen diesen Prozeß in der Formel „selbstdestruktive Zivilisierung“ zusammen und differenzieren damit die Zivilisationstheorie von Norbert Elias. Das Gegenstück ist „reflexive Zivilisierung“.

Ja. Im Unterschied zu einem Zwangsregime der Charakterformung, bedeutet diese Form der Zivilisierung: Ich halte mich im Zaum und indem ich das tue, werde ich von anderen akzeptiert. Ich werde für den Selbstzwang, den ich mir auferlege, mit neuen Handlungschancen belohnt und gewinne Einfluß auf die, denen ich ausgeliefert war. Das entscheidende ist, ob man in Zivilisierungsprozessen dieser Art zu sich selbst

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kommt. Reflexiv meint Reflexion, Selbstbewußtsein.

Und genau das, eine zunehmend ausbalancierte, gleichgewichtige Balance von Zwang und Freiheit, Versagung und Entfaltung, Ja und Nein, fehlte in den staatssozialistischen Gesellschaften. Man versagte sich Befriedigung, verzichtete auf eigene Ansprüche, ohne deshalb eine wirkliche Selbständigkeit im Verhältnis zu den privaten und öffentlichen Autoritäten zu erlangen. Das machte die eigene Selbstkontrolle instabil und anfällig für „barbarische“ Lösungen in dem Augenblick, wo die verhaßten Autoritäten abtraten.

Und die westlichen Menschen sind alle ordentlich zivilisiert?

Nein, daß man auch in den westlichen Gesellschaften von einer im Krisenfall verläßlichen Trieb- und Gewalthemmung weit entfernt ist, sehen wir jetzt an den Umbrüchen nach dem Untergang der zweiten Welt in aller Deutlichkeit. Insofern umschreibt der Begriff der „reflexiven Zivilisierung“ ein Ziel, keinen Zustand.

Dieses Ziel klingt nach einem Prozeß, der mehrere Generationen dauert.

Das stimmt. Aber zu kurz angelegte Lösungen verschieben Zivilisationsprobleme nur. Ich könnte mir vorstellen, daß im eingeschränkt deutsch-deutschen Zusammenhang reflexive Zivilisationsmuster greifen. Auch wenn die Zeichen der Zeit auf Sturm stehen. Man sollte zu einer Persönlichkeitsformung übergehen, und damit auch den Umbau von Mensch und Gesellschaft im Osten so ablaufen lassen, daß die angeborenen Selbststeuerungsimpulse positiv geformt werden. Im Verlauf eines lebenslangen Bildungsprozesses, Schritt für Schritt von der Familie, über die Schule in den Beruf, sollte die Erfahrung überwiegen, daß Eigeninitiative mehr bestärkt als beschnitten wird. Das scheint mir durchaus leistbar.

Je weiter wir jedoch den Blick in Richtung Ost-Mitteleuropa schweifen lassen, um so skeptischer muß die Antwort ausfallen. Wenn man daran denkt, in welchem Maße die jetzigen Generationen in Mord und Totschlag verstrickt sind, was zur Erblast künftiger Generationen wird, möchte ich keine auch nur von fern hoffnungsvoll klingende Prognose wagen.

Zwar konnte man zu Beginn der ost-mitteleuropäischen Wenden als Zivilisationstheoretiker sagen, daß überall dort, wo selbstdestruktive Zivilisationsmuster vorherrschen, mit gewaltsamen Entwicklungen zu rechnen sei. Doch selbst die zurückgenommensten Ausblicke von 1990 sehen heute wie Utopien aus. Also sollten wir jetzt mit zweckoptimistischen Prognosen vorsichtig sein. Der gesellschaftliche Umbruch hat unüberschaubare Ausmaße.

Wolfgang Engler: „Die zivilisatorische Lücke – Versuche über den Staatssozialismus“. Suhrkamp Verlag1992, 171Seiten, 12DM

Ausführlicher: Wolfgang Engler: „Selbstbilder – Das reflexive Projekt der Wissenssoziologie“. Akademie-Verlag 1992, 260Seiten, 60DM