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Weltbild gerettet

„The Crying Game“: Statt einen ganzen Film zu machen, hat Neil Jordan zwei halbe gedreht  ■ Von Christiane Peitz

Der Kidnapper und seine Geisel: Was tun sie, wenn sie tagelang aufeinander angewiesen sind, auf den Gefangenenaustausch warten oder das Lösegeld? Was reden sie miteinander, welche Beziehung entsteht, und wie verändert sie sich, wenn klar ist, daß der Geiselnehmer sein Opfer am Ende erschießen muß?

Neil Jordan hat die Situation wie in einer Versuchsanordnung zu ergründen gesucht. Fergus, ein Freiwilliger der IRA, sitzt mit dem entführten schwarzen britischen Soldaten Jody im Glashaus einer entlegenen Farm, drei Tage lang, bis das Ultimatum abgelaufen ist. Jody kann kaum atmen unter seiner Kappe, verharrt zwölf Stunden bewegungslos, schweigt. Als Fergus dem Gefesselten den Sack vom Kopf zieht, sagt Jody: „Thank you, soldier.“ Jody zeigt das Foto seiner Freundin Dil, Fergus füttert ihn und begleitet ihn zum Pinkeln. So kommt man sich nah. „Es ist doch nur ein Stück Fleisch“, feixt der Soldat, als der zartbesaitete IRA- Mann bei der handgreiflichen Hilfestellung das Gesicht verzieht. Dann lachen sie. Manchmal tauschen sie Höflichkeitsfloskeln, nicht ohne Ironie.

Mit knappen Worten erklärt Jody Fergus den britischen – und irischen – Rassismus; spätestens hier wird die Brisanz der Lage im Glashaus offenkundig: Der feindliche Soldat Jody bezweifelt ohnehin den Sinn seines Jobs, und Fergus, der Prolet aus Nordirland, ahnt, daß er es mit seinesgleichen zu tun hat, einem Underdog. Das Schema von Täter und Opfer verwischt. Fergus (Stephen Rea) kommt aus South Armagh, Jody (Forest Whitaker) aus Tottenham, Fergus ist schüchtern, Jody temperamentvoll, Fergus liebt Hurling, Jody Cricket – ein ungleiches Paar, wahlverwandt. Die beiden mögen sich.

Jordan treibt die Situation auf die Spitze. Martin (Adrian Dunbar), der Kopf der IRA-Truppe, befiehlt Fergus die Erschießung der Geisel, der Mörder in spe bittet um die letzte Nachtwache. Jody weiß, was geschehen wird, und erzählt Fergus die Fabel vom Frosch und vom Skorpion. Ein Skorpion bittet einen Frosch, ihn über den Fluß zu tragen, und verspricht, nicht zu stechen, denn das bedeute den Tod für beide. In der Mitte des Flusses sticht der Skorpion doch, und als beide untergehen, erklärt er dem Frosch: „Ich kann nichts dagegen tun. Es ist eben meine Art.“ Wie wird Fergus handeln: Gemäß seiner politischen Überzeugung oder gemäß seiner sanften Natur? Wird er die IRA verraten oder den neuen Freund? Jody bittet Fergus um eine letzte Zigarette, dabei hat er noch nie geraucht. Fergus soll ihm was erzählen, ihn ablenken. „Als ich ein Kind war...“, beginnt Fergus und bricht ab. Lakonisch, wie nebenbei steigert der Film die Spannung ins kaum noch Erträgliche.

Die IRA und der alltägliche chronische Krieg in Irland interessieren Jordan offenbar nicht, auch wenn der Regisseur das Gegenteil behauptet: Die politische Konstellation bleibt Kulisse, austauschbar. Es geht vielmehr um die grundsätzliche moralische Frage, wie es um die Verantwortung dessen steht, der schießt, und ob ein Mörder, wenn der Feind sein menschliches Antlitz zeigt, die Tat noch begehen kann. Die erste Hälfe von „The Crying Game“ – ein kurzer Film über das Töten.

Als es soweit ist, besteht Jody darauf, daß Fergus ihm den Sack vom Kopf zieht. „Ich bin froh, daß du es machst“, sagt er, „weil du mein Freund bist.“ Fergus soll ihm ins Gesicht sehen. Jody flüchtet in den Wald, Fergus zögert, ihm in den Rücken zu schießen. An dieser Stelle kneift Neil Jordan, läßt – wie ein Deus ex machina in der Oper – britische Panzer aufkreuzen, die Jody bei seinem Fluchtversuch zu Tode fahren. Fergus muß nicht schießen, der IRA-Rebell bleibt der gute Mensch von South Armagh, das Böse verkörpert wie gehabt die britische Armee. Weltbild gerettet.

Schon in seinem letzten Film „Miracle“ hatte Jordan einen Konflikt in letzter Sekunde entschärft. Darin ging es um eine inzestuöse Beziehung zwischen Mutter und Sohn, ein Liebesdrama, das Jordan jedoch zum Familienzwist verharmlost. Vielleicht ist das die Spezialität des irischen Regisseurs: Sich an Tabus wagen, um sie doch nicht zu brechen.

Der Geschichte von Jody und Fergus folgt die Geschichte von Fergus und Dil. Fergus, mit neuer Identität, sucht Jodys Freundin auf, denn er hatte dem Schwarzen versprochen, sich um die attraktive Frau (Jaye Davidson) zu kümmern. Selbstredend sucht er in ihr den toten Freund, verliebt sich und will sie, als seine politische Vergangenheit ihn einholt, vor drohender Gefahr retten: ein Akt der Wiedergutmachung. Aber Dil hat ein Geheimnis, und ebenso gibt Fergus das seine fürs erste nicht preis. Auch in der zweiten Hälfte von „The Crying Game“ geht es um wahre Gesichter und verbotene Gefühle, um Wirklichkeit und Maskerade, um politische Aufrichtigkeit, moralische Integrität und das Schicksal. Klar, irgendwie hat alles mit allem zu tun, der Rassismus mit dem Terrorismus und die sexuelle Identität mit der Gewaltfrage, da braucht man sich um Details nicht zu scheren.

Am Ende wird die Fabel vom Skorpion und vom Frosch noch einmal erzählt, diesmal von Fergus für Dil. Die Moral von der Geschicht': Es gibt die Guten, und es gibt die Bösen. Aber selbst dieser Dialog kann nur mühsam zusammenhalten, was ansonsten in versprengte Bilder zerfällt. „The Crying Game“ bleibt eine Halbherzigkeit.

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