„Das knickt den Kopf weg“

Das Schlafmittel Rohypnol soll verantwortlich für die meisten Drogentoten sein. Suchtexperten empfehlen, es vom Markt zu nehmen.  ■ Von Hans-Günter Meyer-Thompson und Christian Bauer

Ein Schlafmittel ist in Verdacht geraten, verantwortlich für den Tod vieler Junkies zu sein. Rohypnol, ein Mittel aus der Familie der sogenannten Benzodiazepinen. Für den Schweizer Pharmariesen Hoffmann-La Roche ein Verkaufsschlager.

Ursprünglich als starkes Schlafmittel auf den Markt gebracht, entwickelt das Medikament in Kombination mit Opiaten, Barbituraten und Alkohol äußerst tückische Nebenwirkungen. Mitunter gehen sie tödlich aus.

Das gerichtsmedizinische Institut in Dortmund untersuchte und stellte fest: Von den 54 Drogentoten 1991 starben 37 an einem „tödlichen Cocktail“, zu dem auch Rohypnol gehörte. Bundesweit melden Gerichtsmediziner, daß zwischen 30 und 90 Prozent der Drogenabhängigen neben Heroin auch Benzodiazepine nehmen. Ganz oben auf der Hitliste: Rohypnol. Zwei Drittel aller Junkies nehmen es neben Heroin regelmäßig.

Rohypnol, chemisch: Flunitrazepam, dient Junkies bei Rauschgiftverknappung als Ersatzmittel und senkt bei kombinierter Einnahme den Grundverbrauch von Heroin. So wird die Sucht auch billiger. Langjährig Abhängige, die beim Fixen nur noch selten eine euphorisierende Wirkung verspüren, können mit Rohypnol sogar wieder einen ähnlichen „Kick“ verspüren wie zuvor mit Heroin. Die Tabletten werden geschluckt, oder, viel gefährlicher, aufgelöst und gespritzt. Die Wirkung setzt sehr schnell ein, das Gehirn wird vom Wirkstoff quasi überflutet. Nicht selten kommt es dabei zu risikoreichen Fehlschaltungen im Zentralnervensystem: Schon eine Tablette zuviel kann eine Fülle unterschiedlicher Fehlhandlungen auslösen. Tiefe Schlafanfälle hervorrufen oder – paradoxerweise – auch schwere Aggressionsausbrüche. Rohypnol-Konsumenten beschreiben die Hauptwirkung kurz mit: „Das knickt den Kopf weg.“ Die vom Heroin und Rohypnol Betäubten „nicken ab“ auf Parkbänken oder torkeln durch den Straßenverkehr – ein selbstmörderisches Symptom.

Besonders gefürchtet ist das plötzliche Gedächtnisloch, das sich gehäuft auftut: Es sind Fälle bekannt geworden, wo Süchtige erst Heroin und dann Rohypnol einnahmen. Der kurz darauf einsetzende totale Gedächtnisverlust ließ die Süchtigen auch vergessen, daß sie bereits Heroin gespritzt hatten. Die nächste Spritze kann dann leicht die letzte sein. Mit Rohypnol allein läßt sich kaum eine tödliche Wirkung herbeiführen. Bei kurz aufeinanderfolgender Einnahme des Medikaments und Heroin, die beide das Atemzentrum im Gehirn beeinflussen, „potenziert“ sich diese Wirkung jedoch, warnt auch eine Fachveröffentlichung von Hoffmann-La Roche. Der Tod tritt dann durch Atemstillstand ein.

Nicht nur Rettungsmediziner in den Drogenvierteln der Großstädte machen seit geraumer Zeit besorgniserregende Beobachtungen: In Entziehungskliniken für Heroinsüchtige fällt auf, daß immer mehr Patienten epileptische Krampfanfälle entwickeln, gelegentlich erst nach vier bis sechs Wochen oder noch später, die als Folge des schwer berechenbaren Rohypnol-Entzuges diagnostiziert werden. Diese gefährliche Langzeitwirkung ist eine „Zeitbombe“, meint Dr.Klaus Behrend, Leitender Oberarzt der Suchtabteilung am Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-Ochsenzoll. „Vor drei Jahren nahm nur jeder 14. Patient mehr als zehn Tabletten pro Tag, dieses Jahr ist es schon jeder vierte. Bei so hohen Dosen sind auch die Entzüge besonders problematisch – die Patienten gehören dann eigentlich in eine geschlossene Abteilung.“ Die Kranken leiden über Tage und Wochen an einem „Durchgangssyndrom“, wie es auch nach schweren Schädel-Hirn- Verletzungen auftritt: „Kurz: Sie sind dann nicht mehr geschäftsfähig, sehen aber noch so aus.“ Die psychiatrischen Komplikationen beim Heroin-Flunitrazepam-Entzug haben mittlerweile auch Krankenkassen alarmiert: In Hamburg bezahlen die gesetzlichen Krankenversicherungen Rohypnol- Entgiftungsphasen bis zu sechs Wochen, dreimal länger also als bei reinen Heroin-Entzügen.

Der weitere Vertrieb von Rohypnol droht jetzt auch die Polamidon („Methadon“) -Programme in der Bundesrepublik zu beeinträchtigen. „Das Benzodiazepin bringt auch in der Kombination mit Polamidon neben einer Fülle gefährlicher Risiken genau den Rausch, der beim Polamidon fehlt, weil es nur die Entzugssymptome von Heroin verhindert“, sagt Georg Chorzelski, Nervenarzt in der „Drogenambulanz“ der Hamburger Ärztekammer. „Polamidon empfinden die Patienten als sehr langweilig, denn die Euphorie bleibt aus. Da kommt ,Rosch‘ gerade recht.“

Auf der harten Drogenszene ist Rohypnol bundesweit ein Renner und wird – nach dem Hersteller – nur kurz „Rosch“ genannt. Hoffmann-La Roche ist seit längerem bekannt, daß sein Verkaufsschlager im Rauschgiftmilieu mißbraucht wird und unter den Markenpräparaten das Benzodiazepin Valium (Hersteller ebenfalls Hoffmann-La Roche) als Heroinersatzmittel Nr.1 abgelöst hat. Da Rohypnol hierzulande einen jährlichen Apothekenumsatz von knapp 39 Millionen Mark erzielt, mittlerweile mit zweieinhalb Millionen Verschreibungen sogar zu den 20 meistverordneten Medikamenten überhaupt zählt, ist die Firmenzentrale sehr bemüht, den negativen Meldungen entgegenzutreten. Ein Unternehmenssprecher verwies gegenüber der taz darauf, daß die mißbräuchliche Einnahme in der Drogenszene sämtliche Benzodiazepine betrifft. Eine besondere Gefahr des im Vergleich mit Valium immerhin sechs- bis zehnmal stärkeren Rohypnol (Produktwerbung: „Auch in kleinen Dosen hochwirksam“) vermag der Hersteller nicht zu erkennen.

So ganz geheuer kann dem Konzern der Verkaufserfolg wohl doch nicht sein. Zuletzt im August wies Hoffmann-La Roche die niedergelassenen Ärzte in Deutschland mit einem Rundschreiben in 50.000facher Auflage darauf hin, daß Rohypnol „unter keinen Umständen Drogenabhängigen“ oder Patienten mit einer anderen Suchterkrankung verschrieben werden dürfe. Eine Wirkung des Warnschreibens ist kaum zu beobachten, auf der Szene sind die Tabletten praktisch unbegrenzt verfügbar. Nach Schätzungen von Suchttherapeuten fließen rund 80 Prozent durch ärztliche Verschreibungen auf den Drogenmarkt. Verschreibungsmengen von 40, 80 oder noch mehr Tabletten sind keine Seltenheit, beobachten Apotheker in Hamburgs Drogenviertel St.Georg ebenso wie ihre Kollegen in rheinischen Kleinstädten. Der Markt boomt bundesweit. Eine Tablette kostet etwa fünf Mark, an Wochenenden auch mehr. Die Tagesmenge zählt zwischen ein und zwanzig Stück, in Einzelfällen sogar 50 Tabletten.

Nur wenige medizinische Gründe rechtfertigen eine Abgabe von Rohypnol: vor Operationen, für Patienten auf Intensivstationen und bei tatsächlich schwerster, langanhaltender Schlaflosigkeit, die mit milderen Mitteln oder Psychotherapie nicht erfolgreich behandelt werden kann.

Als praktisch frei zugängliches Schlafmittel (Anzeigentext: „Ein Unterschied wie Tag und Nacht“), das in den Arztpraxen schnell über den Tresen geht und die Patienten ruhigstellt, darf das Medikament nicht weiter im Vertrieb bleiben.

Allzu häufig führt die bedenkenlose Verschreibungspraxis im übrigen dazu, daß vor allem Frauen über 60, die zu den umsatzstärksten Patienten gehören, eine klassische Tablettenabhängigkeit entwickeln.

Und von der Drogenszene muß „Rosch“ wegen der schweren Risiken schleunigst verschwinden – Heroin ist schon schlimm genug.

Die Autoren sind Ärzte in Hamburger drogentherapeutischen Einrichtungen