"Zerstören, um wiederzufinden

■ Alle warten auf Alice: Am Samstag ist Premiere des neuen Stückes von Robert Wilson und Tom Waits in Thalia / Der vielbeschäftigte Künstler im taz-Gespräch

INTERVIEW

„Zerstören, um wiederzufinden Alle warten auf

Alice: Am Samstag ist Premiere des neuen Stückes von Robert Wilson und Tom Waits im Thalia/Der vielbeschäftigte Künstler im taz-Gespräch

Werden Sie nicht langsam nervös?

Nein, ich mag Deadlines. Ich erinnere mich, als ich zur Schule ging, bekam ich Eis, wenn ich um zehn Uhr abends meine Hausaufgaben gemacht hatte. Also habe ich mich immer sehr bemüht, um zehn fertig zu sein, damit ich mein Eis kriegte.

Das war auch die Zeit, als Sie Alice zum ersten Mal begegneten?

Ich kannte das Buch als Kind sehr gut. Ich bin mit der Bildersprache des Buches aufgewachsen.

Haben Sie sich damals vor manchen Szenen im Buch gefürchtet?

Nein, ich war überhaupt nicht ängstlich. Ich denke, speziell für Kinder ist es eine sehr aufregende Geschichte.

So faszinierend, daß Sie sie nun wieder aufgreifen?

Ich habe nach dem richtigen Projekt für Tom und mich gesucht. So kam ich auf „Alice“. Tom war sofort interessiert. Auf verschiedene Arten mußten wir all unsere bisherigen Vorstellungen der Geschichte zerstören, um sie wiederentdecken zu können, sie wiederzufinden, und auch um unsere Art Alice zu betrachten zu finden. Die Bilderwelt des Buches ist in den USA so bekannt, daß man sie fast zerstören muß, um dabei etwas neues zu finden, oder um zurück zum Original zu kommen.

Waren da auch psychologische Ansätze im Spiel?

Kann sein, daß es so etwas darin gibt. Aber ich interessiere mich nicht für Psychologie, ich hasse solche Sachen.

Wie haben Sie es angestellt, Ihre Vorstellungen der Alice zu „zerstören“?

Ich begann in meinen Begriffen und meiner Vorstellungswelt darüber nachzudenken. Also mußte ich all diese Bilder aus der Kindheit herausreißen, und blind, mit geschlossenen Augen darüber nachdenken. Das Stück ist durch Lewis Carrolls Augen gesehen, also werden auch wir Alice durch seine Augen sehen.

Steht sein Leben oder sein Buch im Mittelpunkt?

Carroll war für mich der Ausgangspunkt. Die Geschichte ist längst geschrieben. Jetzt sehen wir uns dieses Mädchen an, aber auch eine ältere Alice. Ich brauchte ein Werkzeug, um mich der Sache nähern zu können. Da kam mir die Idee, mit Lewis Carroll als Fotograf zu beginnen, mit der Vorstellung von diesem Mann, der ein kleines Mädchen fotografiert. Ich stellte mir Carroll als Mathematiker und als Geistlichen vor, als eine Person des 19. Jahrhunderts. Das machte es mir leichter, meinen Weg in die Geschichte zu finden.

Dem Widerspruch von Carroll als strengem Mathematiker und Verwirrer und Fotograf kleiner Mädchen folgend?

Ja, in diesem Mann sind eine Menge Widersprüche, das macht die Geschichte üppig und aufregend. Es gibt viele Ecken und Kanten, die den Charakter interessant machen und gleichzeitig dem Ganzen eine Struktur, einen Faden geben und es lebendig machen.

Gibt es auch einen philosophischen Pfad, der Sie in die Geschichte führte?

Ich glaube, das beste, um in irgendwas hineinzukommen, ist ein offenes Bewußtsein, Fragen stellen und mit einem leeren Buch anzufangen. Wenn man auf so eine Art und Weise anfängt, dann möchte man auch mit Fragen aufhören. Deshalb fragst Du Dich andauernd, was ist das, was ich da tue? Und wenn Du weißt, was Du tust, und warum Du es tust, dann solltest Du es nicht tun. Und wenn Du weißt, wovon Deine Arbeit handelt, dann, denke ich, hast Du versagt. Wenn eine Arbeit beendet ist, bleiben Fragen und immer auch etwas, das sich fortsetzt. Sie ist also nie fertig.

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit Tom Waits?

Ich bin eher ein formaler Typ, eben ein bißchen cooler als Tom. Bei mir sind die Linien gerader, strenger. Tom ist freier, was mir sehr gefällt. Wir können voneinander „abprallen“. Seine Arbeit wird dadurch verstärkt, daß meine anders ist. Und meine wird verstärkt, weil seine anders ist. Wir sind Kontrapunkte. Ich trage diesen Designermantel und er rennt in seiner Lederjeans herum. Wir ergänzen uns gegenseitig und kommen gut klar damit. Neulich fragte mich jemand, ob es für mich nicht leichter sein müsse mit David Byrne zusammenzuarbeiten. Tatsächlich sind wir uns näher, was Kleidung und Stil betrifft, oder wie unsere Wohnungen aussehen. Aber es ist leichter mit Tom zu arbeiten, weil wir so verschieden sind. Das macht meine Arbeit stärker ohne sie zu doppeln oder zu wiederholen. Es gibt eine bestimmte Spannung zwischen dem, wie wir etwas hören und sehen aufgrund unserer unterschiedlichen Sensibilität.

Wie haben Sie beide sich gefunden?

Tom schrieb mir, er hätte meine Arbeiten gesehen und würde gern etwas mit mir zusammen machen. Er besuchte mich in New York, und wir verbrachten einige Zeit zusammen. Ich kannte seine Arbeit nicht gut. Dann setzte er sich ans Piano und sang. Ich weinte beinahe, weil es so schön war.

Wo und wie wird die Musik im Stück eingesetzt?

Es gibt einige Lieder, einige gesprochene Lieder mit Musik, manche Szenen sind vollkommen ruhig und manche nur mit Musik. Manche Szenen sind nur aus Bewegung und Musik, manche sind mit Chor oder Duett oder Solo.

„Black Rider“ hat sich von der „strengen“ Art ihrer früheren Arbeiten sehr unterschieden. Man empfand ihn als „unterhaltsamer“.

In Deutschland ist es wie ein schmutziges Wort, wenn jemand unterhaltsam sein will. Das scheint nicht seriös zu sein, wenn Theater unterhalten will. Was stimmt denn da nicht? Theater ist nur eine Form, ein Platz für alle möglichen Arten von Stimmen. Es ist eine aufregende Institution für Stimmen, die man normalerweise nicht hört.

Gibt es Ideen, mit welchem Thema „Black Rider“ und „Alice“ zu einer Trilogie fortgesetzt werden könnte?

Es ist ziemlich schwierig, jetzt über einen dritten Teil nachzudenken, während wir noch mit dem zweiten Teil kämpfen. Ich habe da einige Ideen. Es wird wieder etwas völlig anderes sein. Die Musik ist ja auch jetzt anders als im „Black Rider“, und diese Inszenierung wird wie ein Gegenstück dazu sein. Es mag Parallelen geben, aber auch Unterschiede. Genauso wird ein dritter Teil komplementär zu den beiden vorigen sein.

Fragen: Julia Kossmann