■ Das Portrait
: J.T. Gaidar

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Foto: Reuter

Kaum einem Politiker wurde in so kurzer Zeit soviel Ehre zuteil wie Rußlands Wirtschaftsreformer Jegor Timurowitsch Gaidar. Mit seinen 36 Jahren avancierte er zum Schicksalsträger des Landes. Die einen nennen ihn den Totengräber der Heimat, die anderen stilisieren ihn zum Heiland einer lichten Zukunft hoch. Für Präsident Boris Jelzin gar, der an seinem amtierenden Premier festhalten will, wurde Gaidar zum Synonym für Reformen. Gaidar ist mehr als nur ein Reformer, er ist schon eine fixe Idee — genau gesagt, eine Projektion.

Gaidar übt sich öffentlich in Bescheidenheit. Er bot dem Präsidenten an, zurückzutreten, wenn der Fortgang der Reformen von seiner Person gefährdet sein solle. Gaidar ist kein großer Redner. Aber er weiß, wovon er spricht. Als Professor für Ökonomie leitete er früher ausgerechnet bei der Parteizeitung Prawda das Wirtschaftsressort. Überhaupt kann Gaidar auf einen sauberen kommunistischen Stammbaum verweisen. Sein Vater diente als Offizier in Havanna zur Zeit der Kubakrise. Als Sechsjähriger soll er sich bewaffnet mit Vaters Offiziersdolch zur Verteidigung der „Insel der Freiheit“ aufgemacht haben, wie die Armeezeitung Krasnaja Swesda rührselig schrieb. Seine Großväter waren allesamt Militärs und begeisterte Kommunisten. Das Flammende geht dem Enkel völlig ab. Dafür besitzt er einen kämpferischen Intellekt. Diese Eigenschaft wurde früher nicht sonderlich geschätzt. Man merkt es ihm heute noch an. Er reagiert widerspenstig und überfordert sein Gegenüber intellektuell. Denn ihm fehlt psychologisches Gespür.

Im November 91 holte Jelzin Gaidar in sein Kabinett als stellvertretenden Regierungschef und Minister für Wirtschaft und Finanzen. Gaidar hatte bei Schatalin studiert, der noch für Gorbatschow die Reformblaupause des legendären Schatalinprogramms geliefert hatte. Als Gaidar im Januar mit den Reformen Ernst machte, soll sein Team nur bis zum Mai einen Fahrplan besessen haben. Man ging davon aus, politisch sowieso nicht zu überleben.

Wird Gaidar nun ein „vollwertiger“ Premier oder bleibt er ein „amtierender“? Am Ball bleiben wird Gaidar auf jeden Fall. Immerhin hat er das schier Unvorstellbare in Angriff genommen: eine Reform in Rußland — ohne soziale Unruhen. Klaus-Helge Donath