"Das Jugendstrafrecht wird ausgehöhlt"

■ Die Moaniter Jugendrichter Ruth Sieveking und Jürgen Miller über ihre Erfahrungen mit rechtsradikalen Jugendlichen / Generalstaatsanwälte beim Land- und Kammergericht versuchen mit Anweisung...

Der Ruf nach Repression und Abschreckung zur Bekämpfung rechtsextremistischer Gewalttäter wird immer lauter. Die Jugendrichter sehen sich immer mehr dem Vorwurf ausgesetzt, mit den Jugendlichen zu lax umzugehen. Der Generalstaatsanwalt beim Berliner Landgericht, Heinze, unterstellte einigen, nicht namentlich genannten Moabiter Jugendrichtern unlängst sogar, sie hätten ihren Beruf verfehlt und sollten lieber Sozialarbeiter werden (siehe taz vom 15.12.). Zu diesen und anderen Fragen ein Gespräch mit Ruth Sieveking und Jürgen Miller. Sieveking ist seit acht Jahren Jugendrichterin, Miller seit zwei Monaten. Zuvor war er Jugendstaatsanwalt und danach in der Justizverwaltung für den Jugendstrafvollzug zuständig.

taz: Die Berliner Generalstaatsanwälte Neumann und Heinze haben die Hauptabteilungsleiter der Staatsanwaltschaft jetzt angewiesen, bei rechtsextremistischen Straftätern schärfere Strafanträge zu stellen. Was halten Sie von dieser Anordnung, die auch an die Jugendstaatsanwaltschaft ging?

Jürgen Miller: Wir haben den Eindruck, daß hier über den Hebel „Kampf dem Rechtsextremismus“ versucht wird, Einfluß auf die gesamte Jugendstrafrechtspflege zu nehmen. Gerade bei der Jugendstaatsanwaltschaft sind sehr viele junge Leute tätig, die nicht mal ein halbes Jahr oder Jahr dabei sind. Sie stehen unter einem gewissen Beurteilungsdruck. Im Anschluß an jede Sitzung machen die Staatsanwälte einen sogenannten Handaktenvermerk, der dem stellvertretenden Generalstaatsanwalt vorgelegt wird. Dieser sieht somit, was der einzelne Staatsanwalt in der Sitzung beantragt hat. Auf diese Weise wird auf die jungen Leute Druck ausgeübt, schärfere Strafen zu beantragen. Logischerweise lassen sich von den Anträgen der Staatsanwälte auch Richter und insbesondere die Schöffen beeinflussen, zumal zum 1. Januar neue Schöffen kommen werden.

Ruth Sieveking: Mich ärgert, daß der Grundgedanke des Jugendstrafrechts „Erziehen statt Strafen“ ausgehöhlt wird. Da wird von Generalprävention und Abschreckung geredet, und der zukünftige Leiter der neuen Extremismus-Abteilung bei der Staatsanwaltschaft, Carlo Weber, gibt in einem Interview das Glaubensbekenntnis ab, daß härtere Strafen abschrecken. Zahlreiche Gutachten belegen, daß härtere Strafen bei Jugendlichen nicht zu einer Erziehung und Besserung führen.

Generalstaatsanwalt Heinze hat sich öffentlich darüber beklagt, daß es in Moabit Jugendrichter gibt, die von Strafen nichts halten, und diesen den Ratschlag erteilt, besser Sozialarbeiter in der Jugendfürsorge zu werden. Fühlen Sie sich davon angesprochen?

Sieveking: Dagegen verwahre ich mich im Namen aller meiner Kollegen ganz entschieden, auch wenn die beiden Berufe eng zusammengehören. Richter, die nie strafen, gibt es bei uns nicht. Unter uns Jugenrichtern ist aber allgemein anerkannt, daß Strafen nicht das A und O ist. Es gibt natürlich einige Fälle, wo man nicht umhinkommt, Maßnahmen oder Jugendstrafen auszusprechen.

Was für Erfahrungen haben Sie in Ihren Prozessen bisher mit rechtsradikalen Jugendlichen gemacht?

Sieveking: Zur Zeit habe ich kaum mit solchen Jugendlichen zu tun, weil ich für Schöneberg und einen Teil vom Wedding zuständig bin, wo hauptsächlich junge Ausländer leben. Anders im letzten Jahr, als ich auch für Mitte zuständig war. Die meisten waren einfach nur Mitläufer, fehlgeleitete Jugendliche, die überhaupt nicht wußten, was Nationalsozialismus ist, und einfach nur provozieren wollten. Die malen ihr Hakenkreuz so, wie andere früher einen Penis an die Tafel gemalt haben.

Weshalb waren diese Jugendlichen angeklagt?

Sieveking: Entweder wegen Schlägereien mit Vietnamesen oder jungen Türken oder „Sieg Heil“- und „Heil Hitler“-Rufen, vorwiegend nach Fußballspielen. Bei den Schlägereien ging es eher darum, den Schwächsten der Gesellschaft zu treffen, als daß es gezielte Ausländerfeindlichkeit war.

Wie reagiert ein Moabiter Jugendrichter auf solche Taten?

Sieveking: Selbstverständlich fassen wir einen Skin, der einen Vietnamesen mit einem Baseballschläger niedergeschlagen hat, nicht mit Samthandschuhen an. Unser Ziel ist, eine Wiederholung der Tat zu verhindern, und dies mit mildesten Mitteln. Wenn diese nicht greifen, müssen härtere Maßnahmen ergriffen werden. Aber das Jugendstrafrecht sieht ja gerade keine Generalprävention, also keine Abschreckung anderer, vor. Es ist aber auch schon vorgekommen, daß ich einem 15jährigen aus der rechten Szene achtzehn Monate ohne Bewährung gegeben habe. Er hatte einen anderen Jugendlichen so schwer im Gesicht verletzt, daß dieser Zeit seines Lebens behindert ist.

Wie sehen diese milden Maßnahmen im einzelnen aus?

Sieveking: Teilnahme an sozialen Trainings- und Antigewaltkursen, Mitarbeit bei der Integrationshilfe. Aber die Angebotspalette ist sehr gering. In diesem Punkt müssen wir und die Gerichtshelfer uns dringend etwas überlegen. Das Problem ist nur, daß wir alle so überlastet sind.

Lassen sich rechtsradikale Jugendliche von solchen Kursen überhaupt noch beeindrucken?

Sieveking: Bei denen, die mitlaufen, weil es zur Zeit „in“ ist, glaube ich das schon. Bei den wirklich Rechtsradikalen bin ich jedoch sehr skeptisch. Ich habe früher einen rechtsradikalen Jugendlichen zu Gesprächen in die jüdische Gemeinde zu schicken versucht. Später habe ich erfahren, was das für eine Zumutung für die jüdische Gemeinde war, und habe mich sehr für meine Entscheidung geschämt. Ich hatte mich und meine Mittel einfach überschätzt.

Kommen Sie im Prozeß an die wirklich rechtsradikalen Jugendlichen heran?

Sieveking: Kaum. Diese Jugendlichen sind obrigkeitsgläubig, gut angezogen, nicken freundlich, geben alles zu, weichen dem Blick aber aus. Das ist bei meinen Türken aus Schöneberg ganz anders. Es ist mir viel lieber, die Angeklagten flegeln sich vor mir hin, aber wir können miteinander reden. Einer der Jugendlichen aus Mitte ist mir noch gut in Erinnerung. Er hatte seinen Freund aus nichtigstem Anlaß mit seinen Springerstiefeln zusammengetreten. Obwohl dies keine schweren Verletungen zur Folge hatte, habe ich ihm neun Monate Freiheitsstrafe mit einer dreijährigen Bewährungszeit nach Erwachsenenstrafrecht gegeben, weil keine Voraussetzungen nach dem Jugendstrafrecht vorlagen. Ich habe zu dem jungen Mann im Prozeß überhaupt keinen Kontakt gefunden.

Selbst in der liberalen Öffentlichkeit wird der Ruf nach härteren Strafen für rechtsextremistische Gewalttäter immer lauter. Glauben Sie, daß Knast bei solchen Jugendlichen etwas bewirkt?

Sieveking: Ich halte Knast für kein geeignetes Mittel, zumal die dortigen Mitarbeiter nicht dafür ausgebildet sind, auf rechtsradikale Jugendlichen erzieherisch einzuwirken. Manchmal bleibt uns aber nichts anderes als Einsperren übrig, denn manche jungen Menschen müssen wir schlichtweg aus dem Verkehr ziehen.

Miller: Ich weiß von Mitarbeitern der Jugendstrafanstalt, daß diese ganz enorme Schwierigkeiten haben, an diese Jugendlichen heranzukommen. Auch innerhalb der Wohngruppen, wo zum großen Teil auch junge Ausländer untergebracht sind und man auf sehr engem Raum zusammen ist, soll eine sehr gespannte Situation bestehen.

Beschränkt sich der Kontakt eines Jugendrichters zum Angeklagten eigentlich ausschließlich auf die Hauptverhandlung?

Miller: Ich bemühe mich, meine Leute, soweit es mir zeitlich möglich ist, in der Jugend-U-Haft zu besuchen.

Sieveking: Wir verstehen unseren Beruf nicht so, wie ein Erwachsenen-Richter, der die Akten nach dem Urteil weggibt. Wir überwachen die Maßnahmen, die wir anordnen, selbst. Wenn die Freizeitarbeiten zum Beispiel nicht gemacht werden, laden wir die Jugendlichen vor und sprechen mit ihnen. Man muß sehr viel Zeit und Geduld aufbringen. In diesem Zusammenhang muß ich noch eins loswerden. Das Jugendgerichtsgesetz sieht in Paragraph 36 vor, daß für Verfahren, die zur Zuständigkeit der Jugendgerichte gehören, Jugendstaatsanwälte bestellt sind. Aufgrund der Ereignisse der letzten Zeit habe ich aber den Eindruck, daß der Jugendstaatsanwaltschaft immer mehr Kompetenzen entzogen werden.

Spielen Sie auf die neue Abteilung für Extremismus bei der Staatsanwaltschaft an, die nichts anderes als ein Wiederaufguß der alten P-Abteilung ist?

Sieveking: Genau. Intern heißt sie bei uns auch wieder P-Abteilung. Wir verstehen die Wiedereinrichtung dieser Abteilung auch von unserer Senatorin nicht. Herr Heinze ist doch deshalb Generalstaatsanwalt geworden, weil sich sein Vorgänger, Herr Treppe, geweigert hat, die P-Abteilung aufzulösen. Als das geschah, waren wir unheimlich froh, weil die Verfahren seither in einer wirklich guten, ruhigen Atmosphäre verlaufen sind.

Interview: Plutonia Plarre