Vom Nachttisch geräumt
: Dada 2

■ Hugo Ball: "Die Flucht aus der Zeit"

Hugo Balls „Die Flucht aus der Zeit“ erschien erstmals 1927. Bernhard Echte hat jetzt diese einzige von Ball autorisierte Ausgabe neu herausgebracht, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen: Memoiren in Form von Tagebuchaufzeichnungen. Es mischen sich dabei ununterscheidbar authentische Notizen mit späteren Nachträgen. Ein faszinierendes Buch, das vor allem deutlich macht, wie wenig Dada nur eine ästhetische Spielerei, wie sehr es von Anfang an auch katholisch war. Ball spricht von der „orgiastischen Hingabe an den Gegensatz alles dessen, was brauchbar und nutzbar ist.“ Das ist der gemeinsame Nenner von religiöser und rebellischer Verve. Ball notiert am 23.VI.1916: „Ich habe eine neue Gattung von Versen erfunden, ,Verse ohne Worte‘ oder Lautgedichte, in denen das Balancement der Vokale nur nach dem Werte der Ansatzreihe erwogen und ausgeteilt wird. Die ersten dieser Verse habe ich heute abend vorgelesen. Ich hatte mir dazu ein eigenes Kostüm konstruiert. Meine Beine standen in einem Säulenrund aus blauglänzendem Karton, der mir schlank bis zur Hüfte reichte, so daß ich bis dahin wie ein Obelisk aussah. Darüber trug ich einen riesigen, aus Pappe geschnittenen Mantelkragen, der innen mit Scharlach und außen mit Gold beklebt, am Halse derart zusammengehalten war, daß ich ihn durch Heben und Senken der Ellbogen flügelartig bewegen konnte. Dazu einen zylinderartigen, hohen, weiß und blau gestreiften Schamanenhut.“ Und: „Einen Moment lang schien mir, als tauche in meiner kubistischen Maske ein bleiches, verstörtes Jungengesicht auf, jenes halb erschrockene, halb neugierige Gesicht eines zehnjährigen Knaben, der in den Totenmessen und Hochämtern seiner Heimatspfarrei zitternd und gierig am Munde der Priester hängt. Da erlosch, wie ich es bestellt hatte, das elektrische Licht, und ich wurde vom Podium herab schweißbedeckt als ein magischer Bischof in die Versenkung getragen.“

Eine Urszene der Moderne, die mit dem „Projekt der Moderne“, wie Philosophen es formulieren, nichts zu tun hat, vielmehr ihr Antidotum ist. Man spürt den Wahn, die Nähe zur völligen Verrückung, aber auch Balls kaum zu überbietende Hellsichtigkeit. Der Showmaster als Corpus Christi. Und auf die Show folgt die Grablegung. Das Ganze aber ist nichts als die auf den Kopf gestellte aufklärerische Wahrheit, gegen die die Performance anzurennen scheint: Religion ist Showbusiness.

Hugo Ball: „Die Flucht aus der Zeit“. Limmat-Verlag, 366 Seiten, ca. 58DM