Vom Nachttisch geräumt
: Erotik

■ "Erotik in der Kunst des 20. Jahrhunderts"

Courbets „Der Ursprung der Welt“ zeigt das weibliche Geschlecht, so schreibt Gilles Néret, als „wilde Grotte in einem wuchernden Wald“. Was es mit Christos „Surrounded Islands“ in Wahrheit auf sich hat, wird in „Erotik in der Kunst des 20.Jahrhunderts“ schon dadurch deutlich, daß sie direkt über dem „Ursprung der Welt“ stehen. Christos bewaldete Inseln sind riesige Mösen. Der keusche Verpacker zeigt sich als überdimensionaler Enthüller. Schon diese Gegenüberstellung ist das Geld für Nérets Buch wert. Es gibt nichts Vergleichbares zum Thema. Der energische Zugriff aufs Thema, Welten entfernt vom hierzulande üblichen kunsthistorischen Vokabular, das von „schwellenden Formen“ redet, wo Picasso einen Penis hinsetzte, das alles macht das Buch nicht nur zu einem Genuß, sondern auch hoffentlich zum festen Bestandteil jeder ordentlichen Bibliothek.

Néret liefert eine Bilanz, und wie jeder richtige Buchhalter kümmert auch er sich nicht um Qualitäten. Max Ernst und Jeff Koons, Fetting und Picasso, Klossowski und Gerhard Richter – sie gelten ihm alle gleich. Er wertet nicht ästhetisch. Es geht Néret nicht um künstlerische „Talente“, sondern um einen Katalog der Obsessionen. Er versucht auch nicht, die eine oder andere Leidenschaft– zum Beispiel Bellmers Zerstückelungen oder Balthus' Nymphomanie – zu erklären. Néret bringt uns das Sehen bei. Dabei macht er nicht viel mehr, als mit dem Finger auf die Bilder zu zeigen und daran zu erinnern, daß ein großer Daumen auch ein anderes Körperteil repräsentieren kann. Er macht das vergnüglich, mit einer Lust, die sich überträgt. Das steckt an, aber manchmal fragt man sich: Hat der sie noch alle? So beginnt Néret mit einer Typologie der Künstler nach ihren erotischen Vorlieben: Die einen sind fasziniert vom weiblichen oder männlichen Geschlechtsteil, die anderen von dicken, die nächsten von dünnen Frauen, es gibt die Liebhaber kleiner Jungen und die von Mädchen, es gibt Fans für Spitzenhandschuhe, für Haare und Behaarungen, technoide Zerstückler oder Fetischisten samtener Häute. Nachdem er uns mit der ganzen chaotischen Fülle der von Erotomanen bevorzugten Zonen und Gegenstände bekannt gemacht hat, verkündet Néret apodiktisch: „Das Hinterteil, das wollen wir nicht vergessen, ist die schönste Kostbarkeit, die wir uns beim weiblichen Geschlecht vorstellen können.“ Néret hatte nicht widerstehen können, mußte dem Chaos des fremden erotischen Ballasts seine eigene Fixierung entgegenstellen.

Neben den Abbildungen und Nérets Text stehen die Aussagen der Künstler. So geballt hat man sie bisher noch nicht lesen können. Bonnard, Beckmann, Copley, Beuys, Bellmer, Oldenburg, Richter, Koons, Wesselmann, Matisse, Ernst, Schiele, Oelze, Bacon, Kokoschka, Pollock und viele andere. Die einzige Frau, Louise Bourgeois, schreibt: „Das Leben des Künstlers ist die Verneinung von Sex. Kunst rührt her von der Unfähigkeit zu verführen.“

„Erotik in der Kunst des 20.Jahrhunderts“. Herausgegeben von Angelika Muthesius und Burkhard Riemschneider, mit einem Text von Gilles Néret, übersetzt von Bettina Blumenberg. Taschen Verlag, 234 vorwiegend farbige Abbildungen, 200 Seiten, 29,95DM