■ Das Portrait
: V.Tschernomyrdin

„Er ist ein Apparatschik, ein Mann des alten Systems.“ Nach der Wahl von Viktor Tschernomyrdin zum russischen Premier waren sich die ausländischen Beobachter in ihrer Beurteilung nahezu einig. Und tatsächlich weist die Kaderakte des bisherigen stellvertretenden Regierungschefs, der seit Mai 92 für den Energiesektor zuständig ist, eine Reihe von Erfolgsmeldungen auf: 1961 im Alter von 28 Jahren in die KPdSU eingetreten, übernahm er bereits 1967 das Amt eines Parteifunktionärs in seiner Heimat Orenburg/ Ural. Zwischen 1978 und 82, in den dunkelsten Jahren der Breschnew-Ära, stieg er ins ZK der KPdSU auf. Keinen Schaden fügte seinem Aufstieg auch der politische Richtungswechsel der 80er zu. Nach dem Tod Breschnews wurde er zum stellvertretenden Minister, unter Gorbatschow schließlich zum Minister für Gasindustrie ernannt.

Gleichzeitig ist Tschernomyrdin jedoch ein Mann „von unten“, ein Praktiker: Seine Karriere begann er als Schlosser. Und er ist ein Mann, der sein „Geschäft“ versteht. „Gasprom“, das Energieunternehmen, das er seit 1989 leitet, ist zwar ein Paradebeispiel für einen staatlichen Industriekoloß, doch er funktioniert: Selbst die liberale Wochenzeitung Moskow News mußte eingestehen: „Tschernomyrdin ist ein phantastischer Gas-Experte.“ Damit endete dann jedoch das Lob über den 54jährigen. Moskow News: „Er ist ein Mensch, der auf geradezu klassische Weise unfähig ist, das Amt eines Premiers auszuüben. Er denkt nicht in ökonomischen Begriffen.“ Daß Tschernomyrdin bisher vor allem seinen eigenen Bereich im Auge hatte, wurde bereits deutlich. Bei der Diskussion über die Preisliberalisierung trat er zwar für eine Freigabe ein, für die Ölindustrie wollte er die staatliche Regulierung jedoch beibehalten.

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Foto: Reuter

Wie weit der neue Premier von den Sprachformeln des alten Systems geprägt ist, zeigen auch seine ersten Stellungnahmen. Während er einerseits eine „Vertiefung“ der Reformen beschwor, sprach er sich gleichzeitig gegen eine „Verelendung des Volkes“ aus. Und so scheint der Ministerpräsident seine Wahl in erster Linie seiner politischen Profillosigkeit zu verdanken. Nicht nur die „Zentristen“ um die Industriebosse, sondern auch Boris Jelzin selbst dürften in der Hoffnung, ihn auf ihre Seite ziehen zu können, für Tschernomyrdin gestimmt haben. Sabine Herre