Dörfer ohne Arbeit, Dörfer ohne Kinder

■ Kolloquium des Berliner Instituts für Soziale Studien zur innerdeutschen und Innerberliner Wanderbewegung / Seit dem Mauerfall wanderten sechs Prozent der Bevölkerung von Ost nach West

Mitte. In der ehemaligen DDR gebe es Dörfer, „in denen niemand mehr Arbeit hat“ und in denen „kein Kind mehr lebt“, weil die chancenlosen jungen Eltern nach Westberlin und Westdeutschland abgewandert seien. So drastisch beschrieb Siegfried Grundmann vom Berliner Institut für sozialwissenschaftliche Studien (BISS) bei einem Kolloquium die Folgen der Wirtschaftskrise im Osten, die sich in einer verstärkten Migrationsbewegung gen Westen niedergeschlagen hat. Von Januar 1989 bis Juni 1992, hatte er in den Statistiken zusammengezählt, sind genau 919.279 Personen von Ost nach West übergesiedelt, das sind immerhin sechs Prozent der 15,6 Millionen Einwohner der Ex-DDR. In umgekehrter Richtung waren es nur 134.314 von knapp 59 Millionen.

Auch wenn die Abwanderung Richtung Westen angesichts des Mangels an Wohnungen und Arbeitsplätzen inzwischen stark zurückgegangen und der Saldo zwischen beiden Wanderungsbewegungen fast ausgeglichen sei, so Grundmann, habe die Migration „auch in verminderter Zahl verhängnisvolle Konsequenzen für den Osten“. Denn es gingen stets nur „die Mobilsten, Leistungsfähigsten und Jüngsten“. Viele andere würden auch nur so lange bleiben, wie sie für sich auch woanders keine Chance sähen. Sie bildeten ein „angestautes Wanderungspotential“. 21,4 Prozent aller Ostberliner und 20,8 aller Einwohner von Sachsen-Anhalt „bedauern es, nicht in den Westen übergesiedelt zu sein“, zitierte der Professor aus zwei BISS-Studien. Vor allem die Dörfer seien „Sammelpunkte von Migrationspotential, das aber nicht abfließen kann, weil niemand einen arbeitslosen Bauern haben will. Das sind Akkumulationen der Hoffnungslosigkeit.“

Daß sich das „Migrationspotential“ aber schon viel früher „angestaut“ hatte, daran erinnerte die Sozialwissenschaftlerin Ines Schmidt. Zwischen 1981 und 1988 seien rund 190.000 Menschen von Ost- nach Westdeutschland und rund 30.000 von Ost- nach West- Berlin übergesiedelt, mehr als drei Viertel davon mit einer offiziellen Ausreisegenehmigung. Diese Genehmigung habe allerdings nur ein Bruchteil der Antragsteller erhalten. Deren Zahl sei ab 1984 enorm angestiegen und habe allein in Berlin zwischen 4.000 und 8.000 pro Jahr betragen.

Inzwischen gibt es aber auch die umgekehrte Wanderbewegung. Rund 6.000 Menschen seien seit der deutschen Vereinigung vom Westen nach Ostberlin gezogen, trug Schmidts Kollege Winfried Hansch vor, vor allem in die Bezirke Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Mitte. Die Mehrheit davon seien Männer, Frauen würden hingegen „aus unerfindlichen Gründen“ bevorzugt nach Hellersdorf umsiedeln. Weil dort die Versorgung mit Kindergärten besser sei, warf trocken eine weibliche Zuhörerin ein.

Die Mehrheit der insgesamt gut 100.000 Personen, die seit 1990 von West nach Ost überwechselte, sind laut Hansch Beamte, Ingenieure und Politiker, also diejenigen, die den Strukturwandel bewerkstelligen sollen. Als Motive für ihren Umzug hätten sie in Interviews unter anderem die höhere Besoldung und die schnellere Beförderung benannt, sich aber auch über die „höheren Anforderungen“ und die „überlangen, bis zu zwölf Stunden betragenden Arbeitstage“ beklagt. Pikanterie am Rande: Ein Gutteil der im Osten neugeschaffenen Jobs wird auf diese Weise von Westlern besetzt. Bei der Besetzung der Arbeitsplätze in den größeren industriellen Ansiedlungsprojekten in Berlin und Brandenburg, so hatte Winfried Hansch ausgerechnet, liegt das Verhältnis zwischen Wessis und Ossis zwischen 1:9 und 1:4. Polemisch auf den Punkt gebracht: Nicht die Ausländer, sondern die Westler nehmen den Ostlern die Arbeit weg. Ute Scheub