Alles gut und schön

Raus aus dem Erbauungskreislauf. Über einen Essay von Hans-Jürgen Heinrichs  ■ Von Christel Dormagen

Mit so recht zu Herzen gehender Eindringlichkeit vermögen das heutzutage wohl nur noch altmodische Pfarrer und neumodisch Erleuchtete. Nur ihnen gelingt es, sowohl über die Erscheinungen dieser Welt insgesamt als auch über ihren Sinn zu verfügen. Nur sie können die katastrophale Beschaffenheit des Menschen und seiner Zivilisation ebenso wirksam benennen wie den Weg zur Heilung für beide.

Die Übertragung dieser Botschaft vom Verkünder der Gemeinde funktioniert in solchen Fällen allein schon deshalb, weil sie im Prinzip vorweg allen bekannt ist. Derart rundet sich der weltlicherseits so gefürchtete hermeneutische Zirkel in der gläubigen Gemeinschaft aufs allerschönste.

Mit seinem jüngst erschienenen Essay „Inmitten der Fremde. Von In- und Ausländern“ will Hans- Jürgen Heinrichs aus diesem stillgelegten Erbauungskreislauf ausbrechen. Wir alle sind angesprochen. Wir Politiker und Wissenschaftlerinnen, wir Dritte-Welt- Liebhaber und Rushdie-FreundInnen, wir Golfkriegshasser und New-Age-Anhängerinnen, wir Linksintellektuelle und Westbuddhisten, wir Multikultis und Ganzaussteigerinnen und auch wir Stadtnomaden mit Rest-Utopie.

Diese letzte Formulierung auf dem Buchrücken war es übrigens, an der ich, neugierig hängengeblieben war – intellektuelles Nomadentum ist ja zur Zeit mega-in. Und so, fürchte ich, ist das Ganze überhaupt zustande gekommen. Da hat das Verlagslektorat in notvoller Zeit den angesehenen Autor aufgefordert: Sagen Sie als Ethnologe und Schriftsteller doch mal schnell was zu dieser schrecklichen deutschen Fremdenhaßgeschichte.

Gesagt, getan, und schon ging's schief. Und das nicht, weil im Buch lauter dummes Zeug stünde. Im Gegenteil. Nicht nur ich war beim Lesen besten Willens, sondern auch der Autor beim Schreiben. Es ist ja alles gut und schön, was er schreibt: zu Fernsehunkultur und Informationsterror; zu Ichzerrissenheit und Haßprojektionen; zur Untauglichkeit von Gegensatzpaaren wie rational und irrational oder normal und verrückt; zu Ausland und Ethnozentrismus; zum Fremdsein in der Welt und, ja, zum „Anderen“ in mir. Nur hilft die gute Absicht allein noch wenig. Was wieder zu den Pfarrern und ihrem Erfolg zurückführt. Jede säkulare Rede nämlich, die aus der Unmittelbarkeit des empfindsamen Menschenverstands (mit Selbsterkenntnisbereitschaft) in eine Deutung des großen Ganzen springen will, bleibt dunkel oder platt, da sie nicht auf jenes oben erwähnte Vorverständnis der Gläubigen rechnen kann.

Der redlichste Wille, die erstaunlichste Belesenheit, die herzensbeste Absicht produzieren vorwiegend weiche Allgemeinheiten, die furchtbar richtig sind und sich wohltuend in jeden aufgeschlossenen Kopf einschmiegen. Zum Beispiel: „Wir haben uns Systeme geschaffen, um in uns latent Vorhandenes und brodelnde Triebe nicht zuzulassen oder bei anderen zu verurteilen, bevor wir sie noch verstanden haben“, oder „in jedem Menschen und in jeder Situation ist stets eine unüberschaubare Vielfalt an guten und bösen Tendenzen, Impulsen und Trieben gegenwärtig“, oder „Der Humanismus ist auch eine Form der Verdrängung, der Angstabwehr“; kurz: „Für irgend jemanden ist jeder der Fremde, der Irre, der Perverse.“ Ja, Donnerschlag, ja! Da weizsäckert es unfreiwillig, aber heftig.

Nun ist das Typische an der präsidentialen Menschlichkeitsrede aber, daß sie nicht nur politically correct ist, sondern auch wohl- und hohltönend.

Wenn ich dagegen bei Heinrichs Sätze lese wie den folgenden: „Die Kontinuität der praktizierenden Vernunft führt kontinuierlich zu etwas ganz Anderem, als es deren Ideal war“, dann frage ich mich einesteils, ob das Lektorat nicht alle Tassen im Schrank hatte, andernteils hat solche sprachliche Hilflosigkeit aber auch etwas rührend Ehrliches. Sie wirkt wie eine Art Glaubwürdigkeits-Gütesiegel. Man hört förmlich die Mühen des Richtig-denken-Wollens. „Wie kommen wir an den Lebenswillen und seine schöpferische Kraft heran, die so lange erstickt wurden von Destruktion und Ausbeutung?“

Man sieht: Mit ehrenwertem Wollen, das sich in ungefährem Denken äußert, kommt man da nicht dran – mögen auch Buddha, Morgenthaler, Weizenbaum, Flusser, Duerr, Baudrillard, Sheldrake und Co. geistige Wunschväter sein. „Nichts scheint schwieriger, als einen in sich stabilen Fokus für eine neue kulturübergreifende Ethik zu finden, die sich unabhängig macht von völkerrechtlich sogar noch zu legitimierenden Argumenten für einen Krieg und statt dessen festhält an der eigenen Erfaßbarkeit von Leid und Trauer, von Zerstörung und Auslöschung.“ Schwierig ist es manchmal, auszudrücken, was man meinen möchte.

Gutwillig Interessierten sei trotzdem noch mitgeteilt, worauf Heinrichs angesichts der verfahrenen Weltlage seine Hoffnung setzt, und zwar wieder in seinen eigenen Worten: „Zugleich frage ich mich, ob wir uns nicht historisch in einer Phase des Umbruchs befinden, in der tatsächlich alles erlaubt ist, ... ob dies nicht eine Vorstufe der Selbstverantwortlichkeit und des selbstregulativen ethischen Verhaltens ist, die letztlich unsere einzige Chance sein wird.“ Wobei ich allerdings fürchte, daß da was ganz anderes steht, als er meint. Die Vorstufe als letzte Chance von wessen Selbstregulation?

Was Heinrichs wohl möchte, ist, unser aller taubstummblindes Herrschaftsdenken ins Bewußtsein heben, auf daß wir achtsam und bedachtsam schauen und handeln. Was ja auch ganz prima ist. Nur hilft da ein anständiger Satz oft weiter als ein anständiger Mensch.

Hans-Jürgen Heinrichs: „Inmitten der Fremde. Von In- und Ausländern“. rororo aktuell 1992. 230 Seiten, 16 DM.